Herz glaubt, dass Merkel nun keine Wahl hat und die Ermittlungen zulassen muss. „Böhmermann hat den türkischen Staatspräsidenten eindeutig beleidigt“, erklärt Herz. „Nur die Justiz kann entscheiden, ob er sich strafbar gemacht hat oder ob sein Gedicht von der Meinungs- oder Kunstfreiheit gedeckt ist.“
Der Erfurter Wissenschaftler ist überzeugt, dass die Angelegenheit letztlich gut ausgehen wird. Zwar kenne die Meinungs- und Pressefreiheit Grenzen, die Kunstfreiheit sei aber nahezu schrankenlos. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein deutsches Gericht die Kunstfreiheit einschränkt“, sagt Herz.
Wenn es so käme, stünde Erdogan schlecht da – zumindest in den Augen der deutschen Öffentlichkeit. In seiner Heimat könnte ihm die Angelegenheit aber nützlich sein, schließlich hat er dort Legitimitätsprobleme. „Er stellt sich als starken Mann dar und braucht nach innen immer wieder Rechtfertigungen dafür“, sagt Herz.
Das sagen Türken in Deutschland zum Fall Böhmermann
Roy Karadag von der Universität Bremen sieht keinen Zusammenhang zwischen dem Streit um Böhmermann und die neue gemeinsame Flüchtlingspolitik von EU und Türkei. „Erdogan hat kein Interesse, dass der Flüchtlingsdeal platzt“; sagt der Türkei-Experte. Der Staatspräsident brauche die EU und Deutschland mindestens genauso sehr wie die Europäer ihn brauchen.
Die Freiheit der Meinung interessiert Erdogan nicht
Übersicht der Kritik an Erdogan
2008 steht Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit der Opposition im Konflikt um die geltende Trennung von Staat und Religion. Das Parlament kippt auf Initiative der AKP per Verfassungsänderung das Kopftuchverbot an Hochschulen. Daraufhin eröffnet das Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die AKP. Eine Million Menschen demonstrieren in Izmir für eine laizistische Türkei. Das Gericht kippt schließlich die Entscheidung des Parlaments zur Aufhebung des Kopftuchverbots. Das Verbotsverfahren gegen die AKP scheitert 2010 aber knapp an der Stimme eines Richters.
Ein ultranationalistischer Geheimbund namens „Ergenekon“ soll versucht haben, die islamisch-konservative Regierung zu stürzen. Viele der mehr als 270 Beschuldigten müssen für Jahrzehnte ins Gefängnis - darunter Militärs, Politiker und Journalisten. Der frühere Armeechef Ilker Basbug wird im August 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Protestbewegung gegen die Erdogan-Regierung dauert 2013 wochenlang an. Im Mai räumen Polizisten mit einem brutalen Einsatz ein Protestlager im Istanbuler Gezi-Park. Es folgen weitere Proteste in mehreren Städten - vor allem gegen den autoritären Regierungsstil des Ministerpräsidenten. Mehrere Menschen kommen ums Leben, Hunderte werden verletzt.
Die Türkei wird seit Mitte Dezember 2013 von einem Korruptionsskandal erschüttert. Die Ermittlungen erstreckten sich auch auf die Familien mehrerer Minister. Erdogan sieht eine Kampagne gegen seine Politik und reagiert mit einer „Säuberungswelle“ in Polizei und Justiz, bei der Hunderte Beamte zwangsversetzt werden. Die AKP setzt zudem eine Gesetzesänderung durch, die dem Justizminister mehr Macht geben soll. Das Verfassungsgericht annulliert allerdings im April 2014 teilweise Erdogans Justizreform.
Das Parlament nimmt im Februar 2014 einen Gesetzentwurf der Regierung für eine verschärfte Internetkontrolle an. Demnach dürfen Behörden Seiten auch ohne richterlichen Beschluss sperren. Erdogans Zorn auf soziale Netzwerke hat sich an auf YouTube veröffentlichten Telefonmitschnitten entzündet. Darin war angeblich zu hören, wie er seinen Sohn auffordert, große Geldsummen vor Korruptionsermittlern in Sicherheit zu bringen. Im März wird der Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter gesperrt, das Verfassungsgericht hebt die Regierungsentscheidung aber wieder auf.
Und tatsächlich: Ob Visa-Freiheit oder Hilfszahlungen in Höhe von sechs Milliarden Euro – die Türkei lässt sich ihre Unterstützung in der Flüchtlingsfrage einiges kosten. Das bringt Merkel, die auf europäischer Seite der entscheidende Akteur in der Sache ist, in eine ebenso starke Verhandlungsposition wie Erdogan. „Keiner kann seine Macht voll durchsetzen, beide Seiten brauchen sich gegenseitig“, sagt Herz.
Und wie geht es jetzt weiter? Erdogans Rechtsanwalt in Deutschland hat angekündigt, notfalls bis zur letzten Instanz gehen zu wollen. Der Rechtsstreit um Böhmermann könnte also Monate dauern. Karadag rechnet auch künftig mit Spannungen zwischen Berlin und Ankara. „Beim Thema Pressefreiheit kommen Deutschland und die Türkei nicht mehr zusammen.“
Dietmar Herz meint, Erdogan werde „nicht den Hauch von Rücksicht auf die Europäer nehmen.“ Denn: „Die Freiheit von Meinung, Presse und Kunst ist ihm egal.“