Florian Gerster "Es bleibt nicht rosig"

Der Ex-Chef der Bundesagentur für Arbeit und frühere SPD-Minister bescheinigt der großen Koalition sozialpolitische Ignoranz.

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Florian Gerster in Berlin bei einer Pressekonferenz vor Journalisten. Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Gerster, wenn Sie auf die Politik der gegenwärtigen Regierung blicken: Sind Sie noch mit heißem Herzen SPD-Mitglied?

Florian Gerster: Ich bin und bleibe Sozialdemokrat – wie ein Reformkatholik, der trotz eines missliebigen Papstes nicht aus der Kirche austritt. In meinem Herzen bin ich Reformer. Deswegen bin ich auch überzeugt, dass nur Sozialdemokraten den Sozialstaat wirklich reformieren können. Denn nur uns kann niemand unterstellen, ihn abschaffen zu wollen. Aber eines will ich nicht verhehlen: Mit der Politik der SPD seit 2005 bin ich zutiefst unglücklich.

Sie beklagen Ideenarmut in der Sozialpolitik. Was meinen Sie genau?

Sozialpolitik, die sich nicht als Gesellschaftspolitik versteht, sondern als Gegensatz zur Wirtschaft definiert, kennt nur ein Gutes: Geld ausgeben. Dass mehr finanzieller Einsatz zwangsläufig mehr Gerechtigkeit bringt, ist aber veraltete Denke.

Waren die Hartz-Reformen innovativ?

Die Hartz-Reformen und andere Maßnahmen der Agenda 2010 haben den Sozialstaat zurückgestutzt. Ein solches Beschneiden ist von Zeit zu Zeit notwendig, weil das System zum Überwuchern neigt. Das Revolutionäre war doch, aus Opfern des wirtschaftlichen Wandels wieder Beteiligte zu machen, die sich anstrengen können und sollen. Dieses Denken ist verloren gegangen.

Bewahren, schützen, pflegen – darum geht es Union und SPD gleichermaßen.

Ich bin deshalb maßlos traurig über die Verhandlungsergebnisse der großen Koalition. Hier haben die Lordsiegelbewahrer eines Sozialstaates alter Prägung die Oberhand behalten. Offenbar reichte die Fantasie der Beteiligten nicht so weit, sich vorzustellen, dass die Gegenwart nicht immer so rosig bleiben wird, wie sie ist.

Ist die schwarz-rote Rentenreform ein Rückschritt?

Ja! Völlig ungeachtet der demografischen Zukunft, suggeriert die Regierung den Menschen, dass sie so lange wie möglich ihre möglichst hohe Rente genießen können. Das stimmt im Hier und Heute. Aber nur, weil noch immer drei Beitragszahler einen Rentner finanzieren. Schon in zehn Jahren, wenn die geburtenstarke Generation in Ruhestand geht, löst sich diese Suggestion auf.

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