Flüchtlinge Der ohnmächtige Thomas De Maizière

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"Die Wirklichkeit hält sich nicht an Recht und Gesetz"

Lothar de Maizière geht da noch weiter. Der letzte Ministerpräsident der DDR wählte seinen Cousin aus dem Westen, als er in den Wirren der Wendejahre jemanden an seiner Seite brauchte, dem er „blind vertrauen“ konnte. Wenn man auch ihn fragt, warum es Thomas gerade so ergeht, wie es ihm ergeht, dann formuliert er es so: „Er glaubt zutiefst an die Herrschaft des Rechts, an die Kraft des Gesetzes. Aber derzeit hält sich die Wirklichkeit eben nicht an Recht und Gesetz. Das geht ihm sehr unter die Haut.“

In einer stillen Minute hat Thomas de Maizière einmal einem seiner engsten Vertrauten jenseits der Politik, dem Cellisten Jan Vogler, etwas zugerufen: „Du hast Glück, dass du kein Politiker bist.“ Tiefer in die Seele würde er sich, außer von seiner Frau Martina, nicht schauen lassen. Aber in seinem Innersten muss er gekränkt sein von den Weltläufen, die über ihn und seine beeindruckende Karriere hinwegspülen, seine Stärken zu Schwächen mutieren lassen.

"Wer Veränderung leugnet, wird selbst verändert"

Man kann das, was ihm passiert ist, an Personalien festmachen. Noch vor fünf Jahren war es geradezu selbstverständlich de Maizière, der den erkrankten Wolfgang Schäuble bei wichtigen EU-Sitzungen in Brüssel vertrat. Vor wenigen Monaten allerdings berief die Kanzlerin ihren amtierenden Kanzleramtschef Peter Altmaier in die Schlüsselrolle als obersten Flüchtlingskoordinator. Und dann holte sie den sendungsbewussten Frank-Jürgen Weise als Krisenmanager ins Flüchtlingsamt BAMF, sie setzte ihn quasi neben de Maizière, den Dienstherrn.

De Maiziere: Beachtlicher Fortschritt in der Diskussion um den Schutz der europäischen Außengrenzen

Weise stellt nun die Fragen und gibt auch die Antworten, auf die alle warten. Kurzum: Früher hätte man einen wie de Maizière als Stabilisator gerufen, um Struktur ins Chaos zu bringen. Nun wird er selbst flankiert.

Natürlich, er verteidigt sich. „Mehr Stellen für das BAMF, und das früher – ja, das wäre rückblickend richtig und gut gewesen“, sagt de Maizière. „Aber dieser Anstieg der Zahlen war dennoch nicht vorhersehbar.“ Im BAMF pocht man auf das Gegenteil.

Mitte Dezember, beim CDU-Bundesparteitag in Karlsruhe, hielt er eine Rede, die kaum beachtet wurde. Der Innenminister stand ruhig am Pult und sprach ein Wort in Richtung seiner Partei und in Richtung der Bürger, aber eigentlich hätte er es auf sich selber münzen können: „Wer Veränderung leugnet, der wird verändert.“

Die Krise lässt sich nicht vom Schreibtisch aus lösen

Das war für einen wie ihn ein bemerkenswerter Satz. Liebt de Maizière doch gerade Beständigkeit, Tradition und Form, weil sie Halt und Orientierung geben. Berühmt ist, wie er im Verteidigungsministerium präzise Vorgaben für schriftliche Vorlagen verordnete: Arial, 12 Punkt, anderthalbfacher Zeilenabstand. Schon als Studenten lud Thomas de Maizière regelmäßig zum Adventstee. Es gab dann Gebäck und andachtsvolle Stille, um Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium zu würdigen.

Der Familie ihren gebührenden Platz einräumen, der Musik und der Kunst, Freundschaften pflegen ebenso wie Umgangsformen, ein Leben so gesittet eingerichtet und gepflegt wie Kammermusik – das sind eben seine Konstanten. Thomas de Maizière würde Spießigkeit nicht als Vorwurf, sondern als Auszeichnung nicht modischer Prinzipienfestigkeit verstehen.

Ein alter Weggefährte sagt, er sei seinem Wesen nach der perfekte Staatssekretär. Er habe deshalb „viel zu lange geglaubt, die Flüchtlingskrise ließe sich vom Schreibtisch aus lösen“. Das reicht jetzt nicht mehr.

In seinem Ministerbüro fällt de Maizière dazu ein Spruch von Wolfgang Schäuble ein. Politik, hat der einmal gesagt, lerne nur unter Druck. Wäre da nicht sein Blick, der ausdrückt: wenn das denn so einfach wäre.

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