Flüchtlinge Elchtest für Deutschland

Um die Kanzlerin wird es immer einsamer. In der Flüchtlingskrise bekommt sie Druck von allen Seiten. Wer kippt in der Flüchtlingsfrage: Angela Merkel oder das ganze Land? Ein Kommentar.

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Merkels Versuch, die Renationalisierung in Europa und damit das Zerbröseln des Schengenabkommens zu verhindern, vollzieht sie als Solokür auf extrem glattem Eis. Quelle: dpa

Bis zur Silvesternacht in Köln lief für die Bundeskanzlerin fast alles geschmeidig ab: Zwar hatte Angela Merkel weite Teile des Landes mit diesem ihren einen Satz auf die Palme gejagt: „Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Doch außer der rechtsradikal- nationalistischen AfD und dem Pegida-Mob kamen sie alle wieder ganz brav von der Palme runter.

Nach Köln aber ist aus der Palme ein quasi deutscher Stammbaum geworden, auf den alle jene klettern, die in der massiven Flüchtlingsbewegung eine massive Überforderung des Landes sehen oder auch nur befürchten. Tatsächlich: Deutschland steht vor dem politischen Elchtest. Kippt die Kanzlerin, aus freien oder unfreien Gründen, oder kippt gar das ganze Land?

Glaubt man den neuesten Umfrage, kippen beide. Denn nach ihnen wird die AfD bei den Landtagswahlen im März überall exorbitante Stimmengewinne einfahren, sich hart an die SPD-Werte heran pirschen und zweistellig zur mächtigen Macht in den Landtagen avancieren. Und das sogar sogleich schon, wenn es darum gehen soll, eventuell als Steigbügelhalter für CDU-Ministerpräsidenten zu dienen. Ab März ist die AfD etablierte politische Macht.

Die rechtsradikale, nationalistische AfD wird das harsche, prinzipiell ausländerfeindliche Ressentiment als politischen Wert etablieren und in ihren Ausmaßen die Rechtsausleger der NPD in ihren einstigen Hochzeiten noch bei weitem übertreffen. Und sage da keiner, dass sich die demokratisch gefestigte Mitte nicht davor fürchte. Sie muss sich davor fürchten. Doch was tut sie dagegen?

Die Union ängstigt sich vor einem gewaltigen Abwandern ihres rechten Wählerrandes. Die Zentrifugalkräfte des politischen Systems werden immer stärker – nicht nur bei der Union, in der die CSU deshalb ja bereits die Rolle der internen AfD zu übernehmen droht. Genau deshalb schwillt der unionsinterne Krach zum donnernden Bocksgesang an, rollen aus Wildbad Kreuth immer bedrohlichere Lawinen in Richtung Kanzleramt.


Und Merkel? Kanzlersturz? Kanzlerdämmerung?

Wie stark schon die politischen Zentrifugalkräfte wirken, erkennt man auch an dem darbenden, ja mageren Dasein der SPD, die weder durch ihre labyrinthische Flüchtlingspolitik noch durch ihre Puddingpolitik in der großen Koalition punkten kann. Weder Fisch noch Fleisch ist sie, eine klare Linie in der Innen- und Flüchtlingspolitik kann ihr Vorsitzender Sigmar Gabriel nicht aufweisen – und deshalb auch nicht als Wählerfänger durch die Straßen ziehen. Er, der Vizekanzler und SPD-Chef, ist der erste, der beim Schlingerkurs der SPD den Elchtest nicht bestanden hat.

Das aber beeinträchtigt das Funktionieren der großen Volksregierung, der großen Koalition der großen Volksparteien. Drastisch zeigt sich dies an der Unfähigkeit der beiden großen Volksparteien ein simples, aber drängendes Gesetzesvorhaben wie das Asylpaket II zu verabschieden. Bereits für November 2015 vorgesehen, sind sie selbst heute, nach Köln und nach dem Millionenzustrom, nicht in der Lage, sich darauf zu einigen. Das ist wahrlich keine erfolgreiche Demonstration an die besorgten Bürger, dass ihre Regierung das Heft in der Hand hält.

Die Regierung hängt samt ihrem ungeschnürten Asylpaket für alle weithin sichtbar in der Luft. Darf man sich da wirklich noch wundern, dass das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit der Mitte schwindet? Ist es da so erstaunlich, dass mehr und mehr Bürger abdriften? Nein, sie werden sagen (allerspätestens im März sozusagen notariell beglaubigt), dass es den „Etablierten“ wieder einmal vor allem um Parteipolitik geht. Dass sie selbst bei der größten Herausforderung seit Jahren als Regierung versagen, weil sie die eigene Profilierung, den eigenen Opportunismus in den Mittelpunkt stellen. Und so ganz unrecht haben sie dabei wohl nicht – oder? Mit zwei Rädern bereits in der Luft, droht also auch der Großen Koalition eher der Überschlag als das Bestehen des Elchtests.

Und Merkel? Kanzlersturz? Kanzlerdämmerung? Schafft sie es? Ihr Versuch, die Renationalisierung in Europa und damit das Zerbröseln des Schengenabkommens zu verhindern, vollzieht sie als Solokür auf extrem glattem Eis, aber stumpfen Kufen: Von der Bevölkerung erfährt sie null Schub, die Union will in eine andere Richtung und sucht das Weite. Hört jemand auf den Rängen einen Applaus?

Und die Koalitionsparteien? Ihre eigene Union pfeift sie aus, der auf ihre Fehler lauernde Koalitionspartner, zeigt ihr die eiskalte Schulter. In Deutschland und auch in Europa steht sie vorerst alleine, völlig alleine da. Alle ihre ziemlich besten Freunde haben sich in die Kulissen verdrückt.

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