Flüchtlinge „Wir schaffen das“, sagt Merkel – bis heute. Hat sie Recht?

Vor genau einem Jahr gab die Kanzlerin das folgenreichste Versprechen ihrer Amtszeit ab. Was ist seitdem gelungen – und gescheitert? Die WirtschaftsWoche hat Bilanz gezogen.

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Angela Merkel und Frank-Jürgen Weise. Quelle: dpa Picture-Alliance

Es waren historische Sätze, die die Bundeskanzlerin am 31. August 2015 bei ihrem Auftritt vor der Bundespressekonferenz in Berlin sprach: „Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das.“

Wir schaffen das. Für keine andere Aussage ist Angela Merkel in ihrer fast elf Jahre währenden Amtszeit so sehr gehasst worden. Und so frenetisch bejubelt. Was für die einen gelebte christliche Nächstenliebe ist, bedeutet für andere naive Verantwortungslosigkeit oder leere Hoffnungsparole oder beides. Diejenigen, die letzteres denken, sind mittlerweile die Mehrheit: Gerade einmal jeder vierte Deutsche glaubt noch an die Richtigkeit der drei Kanzlerinnen-Worte.

Und die Kanzlerin selbst? Hält ein Jahr später an ihren Worten fest, muss es vielleicht auch. Sie habe diesen Satz „aus tiefer Überzeugung“ gesprochen, hat sie gerade der Süddeutschen Zeitung in einem Interview zu Protokoll gegeben. Ihr sei bewusst, dass „wir es mit einer nicht einfachen und großen Aufgabe“ zu tun hätten. Wir schaffen das sei allerdings „das richtige Motiv für diese Aufgabe – Ziel und Haltung“. Die konkrete Flüchtlingspolitik der offenen Grenze hat Merkel längst korrigiert, ihre Rhetorik aber steht unverrückt.

von Simon Book, Max Haerder, Rebecca Eisert, Maximilian Nowroth, Jürgen Salz, Christian Schlesiger, Cordula Tutt, Kathrin Witsch

Vor allem jedoch bleibt der historische Satz das politische Versprechen einer Regierungschefin. Ein Maßstab und Anspruch, dem Merkel gerecht werden muss, wenn sie 2017 wiedergewählt werden will. Die WirtschaftsWoche hat deshalb, ein Jahr danach, eine ausführliche Bilanz gezogen. Was ist passiert, um den mehr als 1,1 Millionen Flüchtlingen, die 2015 kamen, im Land unterzubringen, sie zu integrieren, ihnen Perspektiven zu bieten? Die Ergebnisse fallen höchst unterschiedlich aus. Deutschland hat sich verändert. Aber: Wirklich geschafft ist das Wenigste.

1.       Jobs finden

Auf dem Arbeitsmarkt entscheidet sich, ob der millionenfache Zuzug auch ein wirtschaftlicher Erfolg wird. Bisher ist die Lage unbefriedigend. Die Bildungsniveaus der meisten Flüchtlinge sind schlecht, die Sprachkenntnisse mangelhaft, das Engagement der Unternehmen – gerade der Großkonzerne – eher enttäuschend. Selbst der Bund hat als Arbeitgeber gerade einmal eine Handvoll Flüchtlinge eingestellt. Der Optimismus des Spätsommers 2015 ist verflogen. Zwar haben in den vergangenen zwölf Monaten zehntausende Flüchtlinge eine Arbeit gefunden, hunderttausende aber suchen noch und sind auf den Staat angewiesen. Die Integration in den Arbeitsmarkt wird Jahre brauchen – und noch viele Enttäuschungen produzieren.

Wohnraum, Verwaltung, Bildung, Sicherheit

2.       Genügend Wohnraum schaffen

Der Zuzug von Flüchtlingen verschärft die Lage in Ballungszentren weiter. Dort, wo die Mieten ohnehin schon hoch und Wohnungen bereits Mangelware sind, zieht es die meisten hin. Der Kampf um günstigen Wohnraum ist deshalb der erste, den Asylbewerber wie Einheimische erleben. Gemessen am Bedarf wird in Deutschland immer noch zu wenig gebaut. Die kürzlich gesetzlich festgeschriebenen Wohnsitzauflagen helfen in Zukunft vielleicht Flächenländern, Leerstände auf dem Land aufzufüllen, die Stadtstaaten hingegen bleiben unter Druck. Es bleibt viel zu tun.

3.       Die Asylverwaltung reformieren

Ein kleiner Lichtblick. Das Nürnberger Bundesamt für Migration und Flüchtlinge war 2015 das Sinnbild des Versagens. Die Behörde war komplett überfordert. Seit der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, im Herbst als Krisenmanager übernahm, ist aber tatsächlich vieles besser geworden. Das BAMF ist heute, trotz aller bestehenden Probleme, deutlich leistungsfähiger geworden als vor einem Jahr. Der einstige Sanierungsfall ist mittlerweile auf einem guten Weg, um auch künftig wieder höhere Asylbewerberzahlen abarbeiten zu können.

4.       In Schulen und Bildung investieren

Mehr Lehrer, bessere Kitas – keine politische Sonntagsrede kommt ohne diese Forderungen aus. Meist bleiben sie folgenlos und nicht finanziert. Nun müssen zusätzlich hunderttausende Flüchtlingskinder in Schulen und Kindergärten integriert werden. Das deutsche Bildungssystem hat deshalb ein extrem belastendes Jahr hinter sich. Von den versprochenen Lehrerstellen haben die Bundesländer bislang kaum die Hälfte besetzen können. Überall herrscht Personalnot, müssen Hilfskräfte engagiert oder Pensionäre reaktiviert werden. Die Flexibilität vor Ort ist da, gute Bedingungen aber sind das bundesweit noch lange nicht

5.       Für Sicherheit sorgen

Auch hier gilt: Die deutsche Politik hat viel versprochen. Die Polizeigewerkschaft würdigt immerhin, dass die Bundesländer einige Tausend neuen Stellen finanzieren wollen, um für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Aber es dauert. Problematisch bleibt hingegen die Lage bei der Bundespolizei.  Die Truppe ist überaltert und ausgedünnt. Was die Bundesregierung an neuen Kollegen einstellen will, kompensiert kaum die Kürzungen der Vergangenheit. In Zeiten der Terrorgefahr kein gutes Signal.

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