Flüchtlingsbilanz 2017 Das Abschieben fällt schwer

Die Flüchtlingspolitik könnte für Merkel endgültig zum Stolperstein werden, wie sich zum Jahreswechsel immer deutlicher zeigt. Dabei hat sich einiges zum Besseren gewendet. Nur ein Problem bleibt bestehen-

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Der Familiennachzug wird auch die künftige Bundesregierung beschäftigen. Quelle: Gordon Welters/laif

Berlin Mehr als 1,3 Millionen Asylsuchende sind nach Deutschland gekommen seit Angela Merkel im Jahr 2015 die Grenzen geöffnet hat. Das optimistische Motto „Wir schaffen das“ ist Ernüchterung gewichen. Nur wenige Flüchtlinge haben bisher einen Job gefunden, die Probleme bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber sind bis heute nicht weniger geworden. Die Bürger erlebten in diesem Jahr, wie das Flüchtlingsthema die AfD groß machte und die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU im Streit um die Obergrenze vor eine Zerreißprobe stellte.

Der unionsinterne Zwist ist beigelegt, doch Konfliktpotenzial mit dem möglichen Koalitionspartner SPD bleibt, etwa in der Frage des Familiennachzugs. Die wiedereingeführten Grenzkontrollen haben das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates zum Teil wieder hergestellt. Doch der im April aufgedeckte Fall des Bundeswehroffiziers Franco A., der vom Migrationsamt BAMF als syrischer Flüchtling anerkannt worden war, hat das Gefühl des Kontrollverlustes wieder verstärkt. Die Flüchtlingspolitik hat die Kanzlerinnendämmerung, die sich zum Jahreswechsel immer deutlicher zeigt, mit herbeigeführt. Dabei hat sich 2017 im Vergleich mit den Vorjahren einiges zum Besseren gewendet. Ein Überblick.

Wie viele Flüchtlinge sind gekommen?

In ihrem „Regelwerk zur Migration“ hatten sich CDU und CSU im Herbst darauf verständigt, dass Deutschland aus humanitären Gründen maximal 200.000 Menschen pro Jahr aufnehmen soll. Diese Grenze wurde in diesem Jahr klar unterschritten. Bis Ende November registrierten die Behörden insgesamt 172.737 neu eingereiste Asylsuchende. 2016 waren 280.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, im Jahr zuvor 890.000. An der Südgrenze zu Österreich, Tschechien und der Schweiz hat die Bundespolizei in den ersten elf Monaten rund 19.600 Flüchtlinge gestoppt, im Vorjahreszeitraum waren es noch 74.000. Etwa 40 Prozent der so eingereisten Menschen wurden nach Polizeiangaben wieder zurückgeschickt. Dieses Vorgehen dürfte weiterhin üblich bleiben. So pochen die CSU-Bundestagsabgeordneten vor ihrer Klausur in Kloster Seeon darauf, dass Kontrollen an Europas Binnengrenzen weiter unkompliziert möglich sein müssen, solange die EU-Grenzschutzagentur Frontex nicht die EU-Außengrenze wirksam sichert.

Woher kommen die Flüchtlinge?

Die Hauptherkunftsländer sind Syrien, Irak, Afghanistan und Eritrea. Aus diesen vier Staaten kam knapp die Hälfte der bis Ende November registrierten Asylsuchenden. Auffällig ist, dass mittlerweile die Türkei mit 7.410 Flüchtlingen auf Platz fünf rangiert. Hier schlagen sich der versuchte Militärputsch gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan vom Juli 2016 und die anschließende Verfolgung politischer Gegner in der Statistik nieder. Zu den weiteren Hauptherkunftsländern gehören Iran, Nigeria, Somalia und Russland.

Wie steht es um den Asylantragstau?

Den hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mittlerweile weitgehend abgebaut. Ende November stapelten sich auf den Schreibtischen der Nürnberger Behörde und ihrer Außenstellen noch knapp 76.000 unerledigte Fälle, davon rund 40 Prozent „Altfälle“, bei denen der Antrag schon vor dem Jahr 2017 gestellt wurde. Im Vorjahr harrten zum gleichen Stichtag noch knapp 491.000 Anträge der Erledigung. Bei neu gestellten Anträgen werden die Verfahren mittlerweile in rund zwei Monaten abgeschlossen. Von Januar bis November wurden insgesamt gut 207.000 neue Asylanträge gestellt – viele von bereits im Vorjahr eingereisten Geflüchteten. Das sind weniger als ein Drittel der Neuanträge des Vorjahreszeitraums.

Wie viele Flüchtlinge dürfen bleiben?

In den ersten elf Monaten dieses Jahres haben die BAMF-Mitarbeiter über rund 579.000 Asylanträge entschieden. Gut ein Fünftel der Antragsteller wurde als Flüchtling anerkannt. Ein knappes Viertel erhielt den niedrigeren „subsidiären“ Schutzstatus oder darf bleiben, weil bei einer Abschiebung Gefahr für Leib und Leben droht. Rund 56 Prozent der Anträge wurden als unbegründet oder aus formalen Gründen abgewiesen, etwa weil ein anderes EU-Mitgliedsland zuständig ist. Damit liegt die Ablehnungsquote knapp über dem Niveau des Jahres 2015 und deutlich über der des vergangenen Jahres. 2016 endeten nur knapp 38 Prozent der Verfahren mit einem negativen Bescheid.

Von den syrischen Antragstellern erhielt in ersten elf Monaten mehr als die Hälfte nur noch den „subsidiären“ Schutz. Die Aufenthaltsberechtigung wird hier zunächst nur für ein Jahr erteilt. Außerdem ist es Flüchtlingen mit entsprechendem Status bis März 2018 nicht erlaubt, ihre Familie nachzuholen. Ob die Regelung verlängert werden soll, wird ein Knackpunkt der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD sein. Die Union fordert, dass der Familiennachzug untersagt bleibt, die Sozialdemokraten wollen das Verbot aufheben. Insgesamt ist aber der Anteil der Antragsteller, die zumindest vorübergehend in Deutschland bleiben dürfen, bei den Syrern am größten. Bei ihnen liegt die sogenannte Schutzquote in diesem Jahr bei knapp 92 Prozent. Zum Vergleich: Bei Flüchtlingen aus Eritrea sind es knapp 83 Prozent, bei Irakern 57, bei Afghanen 44 und bei Türken 27 Prozent.


Wie geht die Integration in den Arbeitsmarkt voran?

Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) sieht Fortschritte. Jede Woche fänden derzeit etwa 2.000 arbeitslose Flüchtlinge einen Job, sagte er jüngst im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Knapp 195.000 Menschen aus den acht wichtigsten Asylherkunftsländern gingen im September einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach, rund 62 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. „2018 wird es noch etwas besser werden“, gab sich Scheele in der „FAZ“ zuversichtlich. „Aber es sind fast alles Helfertätigkeiten.“ Knapp 584.000 Flüchtlinge, die dem Arbeitsmarkt theoretisch zur Verfügung stehen, beziehen mittlerweile Hartz IV – das ist rund jeder siebte der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten.

Die Zahlen zeigten, „dass wir noch gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen, bis die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge gelungen ist“, warnte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Gerd Landsberg, jüngst in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Länder wie Dänemark könnten als Vorbild dienen, sagte Landsberg. Dort würden Flüchtlinge so schnell wie möglich an den Arbeitsmarkt herangeführt, der Spracherwerb erfolge parallel. „Deutschland muss sich von den starren Mustern verabschieden und auf neue Herausforderungen mit neuen Konzepten reagieren“, forderte Landsberg. Spracherwerb funktioniere am besten über Arbeit. Tatsächlich müssen Flüchtlinge aber schon länger als angepeilt auf die Teilnahme an einem Integrationskurs warten, der ihnen die Grundlagen vermitteln soll. Betrug die durchschnittliche Wartezeit zu Jahresbeginn noch 10,9 Wochen, so waren es zuletzt 12,5 Wochen. Eigentlich sollte die Teilnahme nach spätestens sechs Wochen sichergestellt sein.

BA-Chef Scheele sprach sich dafür aus, auch geduldeten Flüchtlingen die Chance zu geben, sich besser auf das Arbeitsleben in Deutschland vorzubereiten. Sie sollten ein Jahr nach der Einreise uneingeschränkten Zugang zu den Integrationskursen des Flüchtlingsamtes BAMF erhalten, sagte Scheele der Deutschen Presse-Agentur. Gleiches gelte für die von der BA angebotenen Sprachkurse, in denen berufliche Fachbegriffen vermittelt werden. Geduldeten Flüchtlingen, deren Abschiebung unter anderem aus gesundheitlichen Gründen unmöglich ist, sind diese Kurse bisher weitgehend verschlossen.

Gibt es Fortschritte bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber?

Bundeskanzlerin Merkel hatte schon Mitte 2016 eine „nationale Kraftanstrengung“, um abgelehnte Asylbewerber auch tatsächlich in ihre Heimat zurückzubringen, angekündigt. „Wo Recht gesetzt ist, muss dieses Recht auch umgesetzt werden“, betont die CDU-Chefin. Der Bund und die für Abschiebungen formal zuständigen Länder haben in den vergangenen Monaten Abschieberegelungen verschärft, ein gemeinsames Koordinierungszentrum eingerichtet, Telefon-Hotlines und ein Informationsportal im Netz gestartet und die Finanzhilfen für freiwillige Rückkehrer erhöht. So hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière erst kürzlich eine Extra-Prämie ausgelobt. Wer sich von Anfang Dezember bis Ende Februar 2018 zur freiwilligen Ausreise entscheidet, kann bei Ankunft in der Heimat zusätzliche finanzielle Starthilfe beantragen, etwa für Miete oder Möbel. Vorgesehen sind Hilfen in Form zusätzlicher Sachleistungen: bis zu 3.000 Euro für Familien und bis zu 1.000 Euro für Einzelpersonen.

Durchschlagende Erfolge haben sich trotz all dieser Anstrengungen bisher aber nicht eingestellt – im Gegenteil. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums nahmen bis Ende November rund 27.900 Menschen finanzielle Rückkehrhilfe in Anspruch und reisten aus. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 50.465. Auch bei den Abschiebungen ist ein Rückgang zu erwarten: Bis Ende November wurden 22.200 abgelehnte Asylbewerber zwangsweise in ihre Heimat zurückgebracht. Im Jahr 2016 waren es knapp 25.400. Von 2014 auf 2015 hatten sich die Abschiebezahlen auf mehr als 20.000 verdoppelt.

Für die Entwicklung gibt es mehrere Gründe: In Sachsen etwa hat sich die Zahl der Abschiebungen im Vergleich zum Vorjahr halbiert. 2016 habe es viele Sammelabschiebungen gegeben, besonders in die Balkanstaaten, sagte Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) der Deutschen Presse-agentur. „Das war vor allem auch dank der Einstufung als sichere Herkunftsländer und der vielen Sammelcharter möglich.“ Wöller forderte deshalb, auch die Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko als sichere Herkunftsländer einzustufen. Ein entsprechender Vorstoß war in der vergangenen Legislaturperiode am Widerstand der Grünen im Bundesrat gescheitert. Im Bundesvergleich habe Sachsen zudem „überdurchschnittlich viele ausreisepflichtige Asylbewerber aus Ländern, die sich hartnäckig der Mitwirkung bei der Rücknahme verweigern“, sagte Wöller, der auch Vorsitzender der Innenministerkonferenz ist. Hier müsse der Bund den Druck verstärken. Manche Herkunftsstaaten weigern sich etwa, Reisedokumente für Rückkehrer auszustellen.

Auch das Bundesinnenministerium räumt Vollzugsdefizite ein. Probleme seien etwa die mangelnde Kooperation von Ausreisepflichtigen, die zum Teil täuschten oder untertauchten, aber auch die mangelnde Kooperation der Herkunftsländer bei der Ausstellung von Papieren. Zudem sei die Vollzugspraxis von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Um künftig die Rückführung abgelehnter Asylbewerber zu erleichtern, fordern CDU und CSU, dass alle künftigen Asylverfahren in sogenannten Entscheidungs- und Rückführungszentren abgewickelt werden. Die Asylsuchenden sollen dort bis zur Entscheidung über ihren Antrag bleiben und bei negativem Bescheid von dort zurückgeschickt werden.               

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