Flüchtlingskrise und Brexit Woche der Wahrheit für die Kanzlerin

Schengen scheitert, Großbritannien verlässt die EU – es könnte ein Horror-Jahr in Merkels Kanzlerschaft werden. Beim EU-Gipfel am Donnerstag will sie beides verhindern. Heute gibt sie ihre Regierungserklärung ab.

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Steht innen- und außenpolitisch enorm unter Druck: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Quelle: Reuters

Für Angela Merkel ist eine Woche der Entscheidungen angebrochen: Am Donnerstag reist die Bundeskanzlerin zum EU-Gipfel nach Brüssel. Beim Treffen der 28 EU-Staats- und Regierungschefs wird sich zeigen, wie viel Macht die deutsche Bundeskanzlerin in Europa noch hat.

Denn immer mehr EU-Staaten proben den Aufstand gegen die deutsche Flüchtlingspolitik. Frankreich positioniert sich offen gegen eine Aufnahme weiterer Flüchtlinge, die osteuropäischen Staaten zeigen sich ablehnender als je zuvor, eine Quote innerhalb Europas rückt in weite Ferne.

Und auch in der Heimat ist die Kanzlerin in der Defensive: Der CDU-Bundesvorstand hat ein Maßnahmenpaket zur Integration von Flüchtlingen verabschiedet und dabei auch Kritik der Sozialdemokraten berücksichtigt. Die CSU begrüßt das Integrationspaket der Schwesterpartei – doch der unionsinterne Flüchtlingsstreit ist noch längst nicht ausgeräumt: Die CSU macht keine Anstalten, von der Forderung einer Obergrenze für Asylbewerber abzurücken, auf die sich die Kanzlerin partout nicht einlassen will. Merkels Woche der Entscheidungen im Überblick:

  • Fast zeitgleich hat sich der CSU-Vorstand in München getroffen, um ebenfalls über die Flüchtlingskrise zu beraten. Der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer will Merkel bis zum Gipfel eine Schonfrist im unionsinternen Streit einräumen. Nach dem Gipfel würden er und die Kanzlerin für die Union miteinander reden und eine Zwischenbilanz ziehen, sagte CSU-Chef Horst Seehofer am Montag in München. „Warten wir's ab.“ Seehofer behält sich eine Klage Bayerns gegen den Bund vor, wenn die Flüchtlingszahlen nicht drastisch reduziert werden. Damit will er eine wirksame Sicherung der deutschen Grenze durchsetzen. „Das sind jetzt entscheidende Tage und Wochen“, sagte er. Der FDP-Parteichef Christian Lindner sieht Merkel bereits innenpolitisch so sehr in der Defensive, dass er ihr empfiehlt, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen.
  • Merkels Flüchtlingspolitik erfährt vor allem in Osteuropa viel Ablehnung. Vor dem EU-Gipfel treffen sich ebenfalls am heutigen Montag die Regierungschefs der Visegrad-Länder, also Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen, zu einem Sondergipfel, um sich auf eine gemeinsame Position einzuschwören. Die Signale der östlichen Nachbarn dürften Merkel überhaupt nicht gefallen: Der slowakische Regierungschef Robert Fico sagte, Deutschland habe mit seiner Willkommenspolitik für Flüchtlinge einen Fehler gemacht und wolle nun andere zwingen, diesen mit auszubaden.


Prominente Unterstützung für Merkel

  • Ihre Linie in der Flüchtlingskrise und ihre Position beim EU-Gipfel will Merkel am Mittwochnachmittag bei einer Regierungserklärung im Bundestag klarstellen. Bayerns Präsident Horst Seehofer drückt Merkel für die schwierigen Verhandlungen in Brüssel am Tag darauf die Daumen: „Ich hoffe, sie hat Erfolg“, sagte er. „Denn da geht es ja auch darum, dass Europa in seiner Gesamtheit handlungsfähig bleibt“. Der Vize-Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Hans Michelbach, bleibt jedoch skeptisch: „Mit dem Abrücken Frankreichs ist eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage faktisch gescheitert“, sagte er.
  • Auf europäischer Ebene finden die 28 EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage noch keine gemeinsame Linie. Die eigentlich beschlossene Umverteilung von 160.000 Menschen kommt kaum voran. Umso mehr setzt Bundeskanzlerin Angela Merkel auf eine „Koalition der Willigen“ – also EU-Länder, die der Türkei Flüchtlinge abnehmen könnten. Diese „Koalition“ ist keine geschlossene Gruppe, sondern ein loser Verband an Staaten. Am Donnerstag sollen ihre Mitglieder sich wie schon vor dem EU-Gipfel im Dezember in der Vertretung Österreichs bei der Europäischen Union in Brüssel treffen. Neben dem Gastgeber sind derzeit Deutschland eingeladen, Belgien, die Niederlande und Luxemburg, Schweden, Slowenien, Portugal, Frankreich und Griechenland. Vonseiten der Türkei wird Ministerpräsident Ahmet Davutoglu erwartet.
  • Neben der Flüchtlingskrise steht noch ein zweites brisantes Thema auf der Tagesordnung des EU-Gipfels am Donnerstag und Freitag: Der mögliche EU-Austritt Großbritanniens. Im Sommer steht dort ein Volksentscheid zum „Brexit“ an. Cameron ringt mit den anderen Mitgliedsstaaten um eine EU-Reform, mit der er daheim für den Verbleib in der EU werben will. Der Brüsseler Gipfel am Donnerstag und Freitag soll Entscheidungen bringen. Ein „Brexit“ in ihrer Kanzlerschaft wäre auch für Merkel eine historische Niederlage – hatte sich doch schon Deutschlands erster Kanzler und CDU-Ikone Konrad Adenauer für ein vereintes Europa stark gemacht.  

Merkel hat zwar noch einen prominenten Fürsprecher – doch der ist nicht mehr an der Macht: Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) verteidigte die Entscheidung seiner Nachfolgerin, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. „Ein Fehler jedoch war, diesen Ausnahmezustand zur Normalität zu erklären“, kritisierte er. „Jetzt ist man dabei, diesen Fehler der Vergangenheit nachträglich zu reparieren.“

Schröder fordert daher eine „Agenda 2020“ zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Von einem umfassenden Reformprogramm spricht Merkel nicht – sie betont: „Schritt für Schritt kommen wir voran“.  Doch der Druck auf Merkel wächst, einen umfassenden Lösungsansatz für die vielen Baustellen in Europa zu präsentieren. Viele Beobachter sind sich einig: Es steht eine Woche der Wahrheit in Merkels Kanzlerschaft bevor.

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