Flüchtlingspaten Syrien Wenn Verzweiflung auf Hoffnung trifft

Von ihren Familien sind viele Flüchtlingen für lange Zeit – womöglich gar für immer – getrennt. Der Syrer Mohannad konnte seine Familie nach vier Jahren wieder in die Arme schließen – ein Patenprogramm macht es möglich.

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Voller Freude empfängt Mohannad (r.) seinen 71-jährigen Vater. Vier Jahre lang hatten sie sich nicht gesehen. Quelle: Reuters

Berlin Mohannad R. schließt seinen Vater und seinen Bruder in die Arme – endlich ist ihr Flieger aus Beirut in Schönefeld gelandet. Vier Jahre hat Mohannad sie nicht gesehen, nun sind sie nach der zwanzigstündigen Reise aus der seit Wochen heftig umkämpften syrischen Großstadt Aleppo bei ihm in Berlin. „Ich bin glücklich, dass sie endlich angekommen sind. Sie sehen erschöpft aus, aber gesund, und sie atmen, und das ist erstmal die Hauptsache“, sagt der Syrer. Sein 71-jähriger Vater drückt ihn an sich.

Die Wiedervereinigung mit Vater und Bruder hat Mohannad dem Verein Flüchtlingspaten Syrien zu verdanken. Denn ein undurchsichtiges Netz aus Asylgesetzen, Grenzkontrollen und nicht zuletzt dem EU-Türkei-Abkommen lassen die ohnehin gefährliche Reise der Angehörigen nach Deutschland zu einer Rechnung mit vielen Unbekannten werden.

Die Organisation kann helfen, indem sie Familienmitglieder von Syrern, die schon in Deutschland sind, legal in die Bundesrepublik bringt. Dazu suchen die Ehrenamtlichen nach deutschen Bürgern, die eine finanzielle Bürgschaft für die einreisenden Syrer übernehmen.

Vor zehn Jahren war Mohannad, heute 36 Jahre alt, durch ein Austauschprogramm nach Deutschland gekommen. Durch seine Tätigkeit für eine Flüchtlingseinrichtung in Berlin erreichte er jedoch selbst nicht das erforderte Minimaleinkommen von 2.160 Euro, um ein Familienmitglied nach Deutschland nachzuholen.

Das Blatt wendete sich, als die Flüchtlingspaten ihn an Martin Figur vermittelten, der eine Verpflichtungserklärung bei der Berliner Ausländerbehörde unterzeichnet hat. Mit dieser bürgt der Ingenieur als Pate für Mohannads Vater, den Bruder und auch für die Mutter. Für mindestens fünf Jahre ist Figur, der selbst vier Kinder hat, nun haftbar für die Lebenshaltungskosten der Syrer, auch wenn sie in dieser Zeit Asyl beantragen und den vollen Flüchtlingsstatus erhalten.

Zwar hatte sich ein weiterer Pate für Mohannads Schwester gefunden. Weil sie ihren zweijährigen Sohn jedoch gegen die Einwilligung ihres geschiedenen Ehemannes nicht mitnehmen darf, müssen die Männer weiterhin auf die Vereinigung mit Schwester, Mutter und auch der Großmutter warten.


Handeln aus Überzeugung

Die im vergangenen Jahr gegründeten Flüchtlingspaten Syrien zählen aktuell 2200 Mitglieder, unter ihnen die Paten. Seit März 2015 haben sich Sponsoren für insgesamt 103 Syrer gefunden – zwei Drittel von ihnen sind bereits mit Familienmitgliedern in Berlin.

Die monatlich entstehenden Gesamtkosten von aktuell etwa 55.000 Euro deckt die Organisation durch Mitgliederspenden und Crowdfunding. Neuankömmlinge bekommen monatlich 400 Euro. Wenn Renten- und Krankenversicherungskosten hinzukommen, werden für jeden der unterstützten Syrer etwa 800 Euro benötigt. „Je mehr Geld wir sammeln können, desto mehr Leben können wir retten“, sagt Organisationsgründer Martin Keune.

Wenn der Verein allein für die Kosten nicht mehr aufkommen kann, springen die Paten ein. Eine enorme Verpflichtung – die Martin Figur aber nicht abschreckt. „Was das für uns finanziell bedeutet, stand gar nicht so zur Debatte“, sagt der Flüchtlingspate.

Deutschland hat im vergangenen Jahr 1,1 Millionen Flüchtlinge registriert. Gut ein Drittel der insgesamt über 470.000 in Deutschland gestellten Asylanträge stammte von Syrern. Die Haltung Angela Merkels stützt Figur entschieden. Berührungsängste seien fehl am Platz, wenn es um Fragen der Menschlichkeit gehe, mahnt er. „Ich kann nur jeden ermutigen, Kontakt mit Flüchtlingen aufzunehmen, um einfach festzustellen: Wenn ich Menschen kenne, dann gehe ich ganz anders mit der Situation um.“

Bislang können die Flüchtlingspaten Syrer nur nach Deutschland bringen, wenn diese enge Verwandte haben, die seit mindestens einem Jahr in der Bundesrepublik sind. Diese Regel ist Organisationsgründer Keune ein Dorn im Auge.

Denn wie nachgefragt die Hilfe des Vereins tatsächlich ist, hat er erst kürzlich zu spüren bekommen. Vergangenen Monat veröffentlichte eine arabischsprachige Website einen Artikel über die Flüchtlingspaten – mit überwältigender Resonanz: Keune berichtet von über 600 Mailanfragen von Syrern, die ihn baten, sie nach Deutschland zu bringen. Ihr Leid untermalten viele mit grausamen Fotos. „Ihnen zu schreiben, dass wir ihnen nicht helfen können, weil sie hier keine Angehörigen haben, war unglaublich hart“, erinnert sich Keune.

Mohannads Vater und Bruder konnten die Flüchtlingspaten zur sicheren Einreise verhelfen. Drei Tage nach der Wiedervereinigung am Flughafen sitzen sie im Wohnzimmer der Patenfamilie Figur. Ein buntes Wirrwarr aus Arabisch, Englisch und Deutsch, Mohannad übersetzt und vermittelt. Syrische Gastgeschenke werden verteilt: Süßigkeiten mit Pistazien, ein handgearbeiteter Wandbehang und die berühmte Aleppo-Seife.

Die Männer sind dankbar und hoffen, dass bald auch der Rest der Familie zu ihnen nach Berlin kommen kann. „Martin Figur hat uns geholfen, ohne uns zu kennen“, sagt der 38-jährige Bruder Mohannads. Die tiefen Sorgenfalten sind einem Lächeln gewichen. „Das ist, was ich in Zukunft auch machen möchte: helfen.“

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