Flughafen Berlin-Tempelhof Eine Kleinstadt für Flüchtlinge

Lange hat der Berliner Senat gezögert. Dann quartierte er doch Flüchtlinge am stillgelegten Flughafen Tempelhof ein. Daraus könnte bald Deutschlands größtes Flüchtlingsquartier werden – trotz Bebauungsverbot.

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Drei Hangars der sieben Hangars sind derzeit belegt – ab Mitte Dezember sollen drei weitere als Unterkunft genutzt werden. Quelle: dpa

Berlin Das Gebäude und das Gelände sind ebenso riesig wie geschichtsträchtig. In den Hallen des Berliner Flughafens Tempelhof nieteten einst Arbeiter die Kampfbomber der Nazis zusammen, auf den Rollbahnen landeten nach dem Krieg im Minutentakt die Rosinenbomber der Amerikaner zur Versorgung des blockierten West-Berlin. Nun hoffen in den alten Hangars Tausende Flüchtlinge auf ein neues Leben. Und an die Ränder des kilometerlangen Flugfeldes stellt Berlin demnächst Hallen für weitere Flüchtlinge. 7000, 8000 oder mehr Menschen sollen im nächsten Jahr hier in provisorischen Unterkünften leben – das sind die Dimensionen einer Kleinstadt.

In den ersten drei bewohnten Hangars spielen Kinder auf dem Steinboden zwischen dicht gestellten Zelten, Trennwänden und Doppelstockbetten. Mit Holzlatten fechten sie Schwertkämpfe aus, bis sie einer der vielen Wachmänner vertreibt, die ein friedliches Zusammenleben garantieren sollen. In langen Reihen hocken Männer an den Wänden, trinken Tee aus weißen Plastikbechern, unterhalten sich und beobachten ihre Smartphones.

2300 Flüchtlinge schlafen derzeit auf engem Raum in den drei Hallen in der Nähe der Szenekieze Kreuzberg und Neukölln. Jede ist mehr als 100 Meter lang, knapp 20 Meter hoch und mit gewaltigen Schiebetüren versehen, durch die früher Flugzeuge rein und raus rollten. Schon ab Mitte Dezember sollen drei weitere der insgesamt sieben Hangars bezogen werden. Zu Weihnachten dürften dann fast 5000 Menschen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan und Ex-Jugoslawien dort leben.

Eigentlich sollen sie nach zwei Wochen in Gemeinschaftsunterkünfte umziehen. Das klappt nicht immer. Vor einer der Hallen berichtet ein rauchender junger Mann aus Syrien, er wohne bereits drei Wochen hier. Die Langeweile zwischen den drei Mahlzeiten sei schlimm, auch die Enge von 20 Menschen in einem der vielen Zelte. Gemeinschaftsräume sind selten, in den Zelten und den mit Messestellwänden improvisierten Schlafräumen gibt es keine Tische und Stühle.

Gedränge herrscht aber vor allem bei der Essensausgabe oder wenn es um warme Winterkleidung geht. In der Kleiderkammer neben dem Hangar 1 arbeiten freiwillige Helfer. Sie sortieren säckeweise gespendete Kleidung: Kleider, Hosen, Pullover, T-Shirts, Strümpfe, Handschuhe, Mützen, Schuhe und Schals. Das meiste ist gewaschen und gefaltet. Aus manchen Säcken riecht es aber streng.


Frauenkleidung in Größe L stapelt sich

In den Kleiderregalen sieht man Mangel und Überfluss auf einen Blick. Die Fächer für Männerhosen und Pullover in den Größen S und M sind leer. Auch lange Röcke sind knapp. Frauenkleidung ab L stapelt sich. Die meisten Flüchtlinge sind Männer, eher kleiner als der Durchschnittsdeutsche.

An mehreren Tischen geben die Helfer Kleidung aus. Eine Familie aus Afghanistan kam am Vortag mit acht Kindern. „Das hat auch Vorteile“, erzählt ein Helfer. „Egal welche Größe ich aus den Regalen geholt habe, das hat immer gepasst.“ Ein kleines Mädchen zeigt immer wieder auf einen großen gespendeten Teddy. Als sie ihn schließlich von einem Helfer bekommt, umklammert sie ihn mit beiden Armen.

Konflikte kommen vor, sind aber selten. „Bei mir war ein Mann ziemlich unfreundlich und nervig, immer wieder wollte er, dass wir andere Hosen holen“, berichtet eine etwa 40-jährige Helferin. „Ich habe innerlich geflucht, aber nichts gesagt.“

Kulturelle Lernprozesse sind an vielen Stellen nötig. Vor den WC-Containern und Dixie-Toiletten auf dem Rollfeld hängen gedruckte und gemalte Hinweisschilder: Bitte nicht mit den Füßen auf die Toilettenschüssel hocken, bitte nicht auf den Boden davor, das Toilettenpapier nicht in den Papiermüll werfen. Mütter waschen Kleinkinder vor den Türen im Freien über Pfützen. Zum Duschen geht es mit Bussen zu einem Schwimmbad. Die Grünen nannten die hygienischen Zustände prompt „menschenunwürdig“.

Anfangs war es einigen Flüchtlingen unheimlich, ausgerechnet auf einem Flughafen zu wohnen. „Sie hatten Angst, direkt wieder abgeschoben und ausgeflogen zu werden“, erzählt ein Helfer.

Geflogen wird von dem 1923 eröffneten Flughafen schon länger nicht mehr. Das ist per Gesetz beschlossen. Die Rollbahnen und die mehrere Quadratkilometer großen Wiesen sind reserviert für Skater, Jogger, Griller und die geschützte Feldlerche. Auch die vom Senat geplanten Wohnhäuser wurden durch einen Volksentscheid verhindert.

Dass trotzdem in ein paar Monaten an mehreren seitlichen Stellen Traglufthallen oder Fertigbauten für Flüchtlinge errichtet werden, erbost die Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“: „Das ist ein Frontalangriff auf Demokratie und Bürgerbeteiligung in Berlin.“ Der Senat konterte mit dem Hinweis auf eine Flüchtlingssituation mit „historischen Ausmaßen“. Die Sportler und Griller müssen in ihrer alternativen Idylle künftig etwas zusammenrücken.

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