Frank-Walter Steinmeier wörtlich „Das ist eine Wunde, die weiter schmerzt“

Bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer vom Breitscheidplatz mahnt Bundespräsident Steinmeier, Staat und Gesellschaft hätten den Verletzten und Hinterbliebenen mehr zur Seite stehen müssen. Seine Rede im Wortlaut.

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„Am Tag danach war es still auf dem Breitscheidplatz. Das war nicht die ernste Stille der Heiligen Nacht. Es war jene bleierne Stille, die eintritt, wenn die Sprache versagt – wenn Worte für das Unfassbare fehlen. Ich sehe mich noch am Morgen danach am Tatort stehen, eine weiße Rose in der Hand. Vor mir das Meer der Blumen, die flackernden Kerzen. Und mitten darin ein handgemaltes Schild – darauf nur ein einziges Wort: „Warum?“

Auf dieses „Warum?“ hatte keiner von uns eine Antwort. Bis heute hallt dieses „Warum?“ in uns nach.

Wir trauern um zwölf Menschen aus Deutschland, aus Polen, Tschechien und der Ukraine, aus Israel und Italien, um Frauen und Männer, die in Berlin lebten, ihrer Arbeit nachgingen oder hier zu Besuch waren. Sie alle wurden brutal ermordet, mitten in dieser Stadt, hier an diesem Ort.

Wir denken an die vielen Verletzten aus aller Welt, an diejenigen, die bis heute nicht zurückgefunden haben in ihr altes Leben, die noch in Behandlung sind oder für immer auf Hilfe angewiesen sein werden. Wir denken an diejenigen, die auf dem Weihnachtsmarkt alles miterlebt haben, die in Todesangst waren und nicht vergessen können, was sie mit ansehen und anhören mussten.

Unser Dank gilt all denen, die geholfen haben, unmittelbar nach dem Anschlag und in den Wochen und Monaten danach: den stillen Helden, die für die Verletzten und Hinterbliebenen da waren, den Polizisten, Sanitätern und Ersthelfern, den Hilfsorganisationen und Opferbeauftragten.

Zur Wahrheit gehört auch, dass manche Unterstützung spät kam und unbefriedigend blieb. Aber wir wollen denen danken, die Hilfe gaben, denen, die bis heute Anteil nehmen.

Wir trauern heute mit Ihnen, den Familien und Freunden der Opfer. Sie haben vor einem Jahr, von einer Sekunde auf die andere, einen geliebten Menschen verloren – einen Menschen, mit dem Sie gerade noch telefoniert oder Glühwein getrunken hatten, mit dem sie in ein paar Tagen Weihnachten feiern wollten, mit dem Sie Pläne hatten, manche Pläne für ein ganzes Leben.

Wir können die Tiefe Ihres Leids nicht ermessen und Ihren Schmerz nur erahnen. Und doch ist gewiss, dass sehr viele Menschen in Berlin, in Deutschland und weltweit Anteil nehmen an Ihrer Trauer. Und Sie sollen wissen: Ihre Erfahrung, Ihre Klagen und Warnungen stoßen nicht auf taube Ohren. Sie lassen niemanden unberührt, der in diesem Land Verantwortung trägt.

Die Politik darf nicht zu eilfertig sagen, dass es in unserer offenen Gesellschaft keine vollkommene Sicherheit geben kann, so richtig diese Erkenntnis auch ist. Wir müssen zuerst aussprechen und anerkennen, wo vermeidbare Fehler geschehen sind. Das ist es, was uns nicht ruhen lassen darf. Unsere Haltung muss sein: Dieser Anschlag hätte nie passieren dürfen. Und ja, es ist bitter, dass der Staat Ihre Angehörigen nicht schützen konnte.

Auch das ist eine Wunde, die weiter schmerzt. Und sie mahnt uns, diese Frage immer wieder aufs Neue zu stellen: Tun wir wirklich alles, was wir in unserem demokratischen Rechtsstaat tun können und tun müssen, um Terroranschläge zu verhindern?

Das ist die Aufgabe, die der 19. Dezember 2016 den Verantwortlichen in der Politik hinterlassen hat: Wir müssen Versäumnisse aufklären und aus Fehlern lernen.

Viele Hinterbliebene und Verletzte – viele von Ihnen – haben sich nach dem Anschlag vom Staat im Stich gelassen gefühlt. Eine Mutter, deren Tochter ums Leben gekommen ist, sagt zum Beispiel: „Ich habe vermisst, dass jemand da gewesen wäre, am Anfang, für uns alle.“ Diese Worte lassen mich nicht los. Der gemeinsame Appell der Angehörigen soll nicht einfach verhallen, er hat etwas angestoßen und in Bewegung gesetzt.

An diesem Tag fragen wir uns, wie wir als Gesellschaft mit diesem Einschnitt umgegangen sind, hier in Berlin und in ganz Deutschland. „Wir lassen uns nicht einschüchtern“, hieß es schon am Abend des Anschlages, „wir opfern unsere Freiheit nicht der Furcht. Wir leben weiter wie bisher, jetzt erst recht.“

In Windeseile verbreiteten sich diese Sätze. Sie sind stark, und sie sind richtig. Aber so kurz nach dem Anschlag, als die unfassbare Gewalt gerade in unseren Alltag eingebrochen war, klangen sie nicht mehr nur trotzig und selbstbewusst, sondern auch seltsam kühl und abgeklärt.

Weitermachen wie bisher – haben die Angehörigen verstanden –, das wirkte wie ein Abwehrreflex, wie der allzu routinierte Versuch, den Schock zu unterdrücken, statt ihn auszuhalten, statt innezuhalten, um die Trauer und den untröstlichen Schmerz auch öffentlich zuzulassen. Und es hat, auch wenn das von niemandem beabsichtigt war, bei den Hinterbliebenen und Verletzten, wie ich weiß, Unverständnis hervorgerufen. Denn für Sie, das wissen wir alle, ist seit einem Jahr nichts mehr so, wie es einmal war.

Es ist und bleibt richtig: Wir geben dem Terror nicht nach. Wir lassen uns nicht einschränken in unserer Art zu leben. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir den Schmerz und das Leid verdrängen. Wir treten dem Terror auch dadurch entgegen, dass wir gemeinsam der Opfer gedenken und den Hinterbliebenen zur Seite stehen.

Dass wir miteinander traurig, miteinander wütend, miteinander fassungslos sind – auch das gehört zum Zusammenhalt, den wir brauchen, um gemeinsam unsere Freiheit zu verteidigen. Verehrte Angehörige, ich hoffe, dass Sie diesen Zusammenhalt, diese Solidarität heute spüren können, hier in der Gedächtniskirche, auf dem Breitscheidplatz, überall in Berlin. Ihre Trauer, auch Ihre Enttäuschung und erst recht Ihre Hoffnung sind an uns alle gerichtet.

Ich will Ihnen versichern: Wir lassen Sie mit alldem nicht allein.“

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