Fremdenfeindlichkeit in Sachsen Lehrerverband beklagt Demokratie-Defizite bei Jugendlichen

Die Wirtschaft fordert wegen der Vorfälle in Sachsen Maßnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit. Die Politik kündigte Konsequenzen an. Ein Ansatzpunkt wäre ein Aspekt, auf den der Lehrerverband hingewiesen hat.

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Ortsschild von Clausnitz, ein Ortsteil von Rechenberg-Bienenmühle (Sachsen). Gegner eines neuen Asylbewerberheims hatten versucht, die Ankunft der ersten Bewohner zu blockieren. Quelle: dpa

Berlin Der Deutsche Lehrerverband hat vor dem Hintergrund der fremdenfeindlichen Vorfälle in Sachsen schulische Mängel bei der Vermittlung von zeitgeschichtlichen Kenntnissen beklagt. „Unabhängig von den aktuellen Vorfällen ist es freilich ärgerlich, dass die historisch-politische Schulbildung hinsichtlich der Zahl der Schulstunden und des Umfangs an verbindlichen Inhalten oft stiefmütterlich behandelt wird“, sagte Verbands-Präsident Josef Kraus dem Handelsblatt. Die Folge sei zum Beispiel, dass „zu viele Jugendliche keinerlei Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur benennen können“.

Kraus bezog sich auf eine Studie des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität zu Berlin. Demnach ergab eine Befragung unter knapp 7.500 Schülern in fünf Bundesländern, dass viele Schüler den NS-Staat und die DDR nicht für eine Diktatur halten. Die (alte) Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland würden zudem häufig nicht als Demokratie eingestuft. Ursache dieser Fehleinschätzungen ist laut der Untersuchung aus dem Jahr 2012 das geringe politisch-historische Wissen von Schülern.

Kraus sagte dazu: „Um diese Defizite zu beseitigen, bedarf es keiner neuen Schulfächer, sondern einer Aufwertung der Fächer Geschichte und Politik/Sozialkunde.“ Außerdem bedürfe es einer „verbesserten finanziellen und personellen Ausstattung der kommunalen und der freien Jugendarbeit, die ja ebenfalls im weitesten Sinn politische Bildung zu leisten hat“.

Möglichkeiten einer „unmittelbaren schulischen Einflussnahme“ auf die Vorfälle in Sachsen sieht der Lehrerverbandspräsident nicht, zumal es sich bei den fremdenfeindlichen Protestierern zumeist um Erwachsene handele, die die Schulzeit hinter sich hätten. „Wir können Schule auch nicht zur Reparaturanstalt für alle gesellschaftlichen Problemlagen umdefinieren, damit ist sie überfordert“, sagte Kraus.

Gleichwohl besteht Handlungsbedarf, zumal sich inzwischen auch Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer wegen der jüngsten fremdenfeindlichen Proteste um das Ansehen Deutschlands in der Welt sorgt. „Der Eindruck, dass bei uns gegen Ausländer demonstriert wird, schadet unserem Land“, sagte Kramer der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag in Berlin: „Es muss selbstverständlich sein, dass Asylsuchende in Deutschland unabhängig von ihrer Bleibeperspektive mit Respekt behandelt werden.“

Damit reagierte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) auf die Übergriffe Ende vergangener Woche in Sachsen. In Clausnitz hatten grölende Demonstranten versucht, den Einzug von Flüchtlingen in eine Unterkunft zu verhindern. In Bautzen hatten Passanten den Brand in einem geplanten Flüchtlingsheim bejubelt und die Feuerwehr behindert.


DIW: „Wirtschaft Sachsens wird hohen wirtschaftlichen Preis zahlen“

Zuvor hatte der Hauptgeschäftsführer der IHK Dresden, Detlef Hamann, im Handelsblatt vor Schaden für den Standort Sachsen gewarnt. Hamann sagte, Aufträge könnten zurückgehen und Fachkräfte fernbleiben. Man müsse den Vorbehalten gegen Menschen aus anderen Ländern den Boden entziehen. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, sagte ebenfalls dem Handelsblatt: „Die Wirtschaft Sachsens wird für die Fremdenfeindlichkeit mancher seiner Bewohner einen hohen wirtschaftlichen Preis zahlen.“

Ähnlich äußerte sich die Dresdner Unternehmerin und frühere Grünen-Politikerin Antje Hermenau. Sie sagte im Deutschlandfunk, es gelinge kaum noch, hochbezahlte Mitarbeiter für Forschungseinrichtungen und für die Universitäten einzuwerben. Zugleich meinte sie, es habe etwas von Rufmord, wenn man das Problem des Rechtsradikalismus auf Sachsen beschränken wolle.

Die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), sagte dagegen dem Handelsblatt, die Geschehnisse schadeten dem Ruf Sachsens und ganz Ostdeutschlands im In- und Ausland. Gleicke verwies dabei auf den Rückgang der Touristenzahlen in Dresden, der bereits zu beobachten sei.

Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich nannte am Montagabend in den ARD-„Tagesthemen“ die fremdenfeindlichen Demonstranten in Clausnitz „menschenverachtend“ und „verbrecherisch“. Es habe in Sachsen bereits viele Anstrengungen gegeben, um rechtsextremistisches Gedankengut zurückzudrängen, sagte der CDU-Politiker. Es könne aber nicht allein die Landesregierung dafür sorgen. „Dafür muss die gesamte Gesellschaft eintreten, nicht allein die Polizei und die Politik.“

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) kündigte derweil an, die Mittel für Prävention von Rechtsextremismus auf 100 Millionen Euro pro Jahr zu verdoppeln. „Es gibt viele zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte, die sich in den Kommunen gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit einsetzen: Wir müssen sie bei ihrer Arbeit unterstützen und weiter stärken“, sagte eine Sprecherin Schwesigs der „Passauer Neuen Presse“. Das Familienministerium habe die Forderung bereits in die Haushaltsverhandlungen eingebracht.

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