Freytags-Frage

Darf der Staat seine Bürger zum Glück zwingen?

Viele Menschen tun Dinge, die ihnen schaden. Forscher leiten aus der Verhaltensökonomik ab: Der Staat müsse den Bürgern oft einen kleinen Schubs geben, sie quasi zu ihrem Glück zwingen. Doch die Theorie hat Schwächen.

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Einige Forscher leiten aus der Verhaltensökonomik die Schlussfolgerung ab, dass viele Menschen Dinge tun, die ihnen schaden, oder Dinge lassen, die ihnen nützen. Deshalb müsse man ihnen einen kleinen Schubs (

Die Verhaltensökonomik hat die Volkswirtschaftslehre verändert, und dies durchaus zum Besseren. Das Verständnis für die handelnden Akteure einer Ökonomie ist durch verhaltensökonomische Ansätze verbreitert, die Rolle von Anreizen wird klarer gesehen, der Nutzenmaximierer ist in Frage gestellt worden. Nun ist es zwar nicht so, dass traditionelle Ökonomen den Homo Oekonomicus als originalgetreues Abbild der Wirklichkeit gesehen haben; dennoch tut eine Klärung und Differenzierung hier gut.

Einige Forscher leiten aus der Verhaltensökonomik die Schlussfolgerung ab, dass viele Menschen Dinge tun, die ihnen schaden, oder Dinge lassen, die ihnen nützen. Deshalb müsse man ihnen einen kleinen Schubs (englisch: “Nudge“) geben, um sie ihrem Glück näher zu bringen. Die Begründer dieser Idee, die Wissenschaftler Cass Sunstein und Richard Thaler, nennen es den libertären Paternalismus. Denn niemand würde gezwungen, der Schubs sei ja bestenfalls eine Anregung.

Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

Die Beispiele der Autoren sind zum Teil durchaus überzeugend: Der in der Mittagskantine prominent platzierte Salat kann zum gesunden Essen verführen; die süßigkeitsfreie Kasse im Supermarkt verhindert Stress zwischen Vater und Kind. Man kann ja trotzdem noch die Currywurst bestellen oder einen Schokoladenriegel kaufen.

Es gibt auch andere, weniger klare und überzeugende Beispiele – wie die Bereitschaft zur Organspende. Nur wenige Menschen in Deutschland haben einen Organspendepass, sind also bereit, im Todesfall funktionierende Organe abzugeben, um anderen zu helfen. Wer den Film „Fleisch“ von Reiner Erler gesehen hat, kann für diese Vorsicht Verständnis entwickeln. Bei vielen mag es aber auch schlicht Unkenntnis über die Bedeutung von Organspenden oder Nachlässigkeit sein. Diesen Mangel zu beseitigen, sehen die beiden Autoren ebenfalls als einen kleinen Schubser an; sie schlagen deshalb vor, die Beweislast umzudrehen: Jeder Mensch bekommt automatisch einen Organspendepass und muss aktiv werden, um nicht potentieller Organspender zu werden.

Ängste mit Transparenz nehmen

Und hier wird es problematisch. Denn nun wird die Entscheidungshoheit über den eigenen Körper vom Einzelnen auf die Gesellschaft übertragen. Es bedarf der aktiven Handlung, diese Hoheit zurückzugewinnen, womöglich verbunden mit einer – als unangenehm empfundenen – Begründungspflicht: „Sind Sie sich wirklich sicher, dass Sie sich so unsolidarisch verhalten wollen!?“ Es erfordert Mut, mit einem klaren Ja zu antworten.

Es spricht an dieser Stelle einiges dafür, die Aufklärung über die gegenseitigen Vorteile der allgemeinen Bereitschaft zur Organspende zu verbessern und mit Transparenz Ängste zu nehmen. Dann würden sich vielleicht mehr Menschen dazu bereiterklären. Gleiches gilt nebenbei bemerkt für die Ernährung. Insofern ist eine gesunde Skepsis diesem Paternalismus, libertär oder nicht, gegenüber unbedingt angebracht.

Aufklären statt Einmischen

Das legt auch die Reaktion einiger Regierungen nahe. Denn wie nicht anders zu erwarten, hat die Politik diese Ideen begeistert aufgegriffen, zeigen sie doch, wie die Politik sich segensreich für die Menschen einsetzen kann. In Großbritannien und den USA haben die Regierungen geprüft, wie sie das Leben ihrer Bürger mit kleinen Schubsern verbessern können.

Auch in Deutschland wird seit einigen Wochen daran gearbeitet, Politik wirksamer zu machen, ohne dass der Begriff “Nudge“ verwendet wird. Drei Mitarbeiter im Kanzleramt bilden eine Projektgruppe „Wirksam regieren“. Die Idee, Politik besser zu vermitteln und damit die Ziele wirksamer zu erreichen, ist generell gut. Dennoch sollte man achtsam bleiben. Die beste Methode, Politik wirksam zu machen, ist eine überzeugende Begründung (und damit eng verbunden eine hohe Qualität der Politik). Die Mietpreisbremse wird wohl nicht im Sinne der Mieter wirken, da kann man schubsen, soviel man will!

Die größten Ökonomen
Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes und Milton Friedman: Die größten Wirtschafts-Denker der Neuzeit im Überblick.
Gustav Stolper war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift "Der deutsche Volkswirt", dem publizistischen Vorläufer der WirtschaftsWoche. Er schrieb gege die große Depression, kurzsichtige Wirtschaftspolitik, den Versailler Vertrag, gegen die Unheil bringende Sparpolitik des Reichskanzlers Brüning und die Inflationspolitik des John Maynard Keynes, vor allem aber gegen die Nationalsozialisten. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-2006-0113 / CC-BY-SA
Der österreichische Ökonom Ludwig von Mises hat in seinen Arbeiten zur Geld- und Konjunkturtheorie bereits in den Zwanzigerjahren gezeigt, wie eine übermäßige Geld- und Kreditexpansion eine mit Fehlinvestitionen verbundene Blase auslöst, deren Platzen in einen Teufelskreislauf führt. Mises wies nach, dass Änderungen des Geldumlaufs nicht nur – wie die Klassiker behaupteten – die Preise, sondern auch die Umlaufgeschwindigkeit sowie das reale Produktionsvolumen beeinflussen. Zudem reagieren die Preise nicht synchron, sondern in unterschiedlichem Tempo und Ausmaß auf Änderungen der Geldmenge. Das verschiebt die Preisrelationen, beeinträchtigt die Signalfunktion der Preise und führt zu Fehlallokationen. Quelle: Mises Institute, Auburn, Alabama, USA
Gary Becker hat die mikroökonomische Theorie revolutioniert, indem er ihre Grenzen niederriss. In seinen Arbeiten schafft er einen unkonventionellen Brückenschlag zwischen Ökonomie, Psychologie und Soziologie und gilt als einer der wichtigsten Vertreter der „Rational-Choice-Theorie“. Entgegen dem aktuellen volkswirtschaftlichen Mainstream, der den Homo oeconomicus für tot erklärt, glaubt Becker unverdrossen an die Rationalität des Menschen. Seine Grundthese gleicht der von Adam Smith, dem Urvater der Nationalökonomie: Jeder Mensch strebt danach, seinen individuellen Nutzen zu maximieren. Dazu wägt er – oft unbewusst – in jeder Lebens- und Entscheidungssituation ab, welche Alternativen es gibt und welche Nutzen und Kosten diese verursachen. Für Becker gilt dies nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen wie einem Jobwechsel oder Hauskauf, sondern gerade auch im zwischenmenschlichen Bereich – Heirat, Scheidung, Ausbildung, Kinderzahl – sowie bei sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen wie Diskriminierung, Drogensucht oder Kriminalität. Quelle: dpa
Jeder Student der Volkswirtschaft kommt an Robert Mundell nicht vorbei: Der 79-jährige gehört zu den bedeutendsten Makroökonomen des vergangenen Jahrhunderts. Der Kanadier entwickelte zahlreiche Standardmodelle – unter anderem die Theorie der optimalen Währungsräume -, entwarf für die USA das Wirtschaftsmodell der Reaganomics und gilt als Vordenker der europäischen Währungsunion. 1999 bekam für seine Grundlagenforschung zu Wechselkurssystemen den Nobelpreis. Der exzentrische Ökonom lebt heute in einem abgelegenen Schloss in Italien. Quelle: dpa
Der Ökonom, Historiker und Soziologe Werner Sombart (1863-1941) stand in der Tradition der Historischen Schule (Gustav Schmoller, Karl Bücher) und stellte geschichtliche Erfahrungen, kollektive Bewusstheiten und institutionelle Konstellationen, die den Handlungsspielraum des Menschen bedingen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. In seinen Schriften versuchte er zu erklären, wie das kapitalistische System  entstanden ist. Mit seinen Gedanken eckte er durchaus an: Seine Verehrung und gleichzeitige Verachtung für Marx, seine widersprüchliche Haltung zum Judentum. Eine seiner großen Stärken war seine erzählerische Kraft. Quelle: dpa
Amartya Sen Quelle: dpa

Zum Verständnis der möglichen Problematik dieser neuen Projektgruppe hilft vielleicht ein Beispiel, dieses Mal der Energieverbrauch. Es ist erklärtes Ziel der deutschen Politik, den Verbrauch fossiler Energie zu senken. Das macht Sinn, dürfte aber auch im individuellen Interesse jedes Bürgers liegen, denn Energiesparen senkt die Kosten. Zur Sensibilisierung wird für jedes Gebäude ein Energiepass erstellt, der deutlich macht, ob und inwieweit das Gebäude Energie wirksam nutzt. Solange nur diese Information bereitgestellt wird, ist alles in Ordnung. Der Bewohner kann dann selbst sein Verhalten steuern. Wenn aber die Politik daraus den Schluss zieht, bestimmtes Verhalten vorzugeben und z.B. jedem Käufer eines Hauses automatisch einen Kreditvertrag zur Finanzierung von Dämmstoffen an die Hand zu geben, den dieser dann selber kündigen muss, wird eine Grenze überschritten. Dieses Beispiel ist zugebenermaßen etwas realitätsfern, aber nicht völlig fern jeder Vorstellung (es gibt den automatischen Organpass ja bereits in einigen Ländern).

Auf dem Weg in den Totalitarismus

Es muss aber erlaubt bleiben, Energie zu verschwenden, wenn der Betroffene die Kosten selber trägt (oder will die Regierung schnelle Autos verbieten?). Wenn es um Externalitäten geht, hilft eine Pigou-Steuer zusätzlich zu den Energiekosten. Aber es darf nicht sein, dass Menschen zu ihrem Glück (in diesem Fall eine niedrige Energierechnung) gezwungen werden. Es mag ja Menschen geben, die durch eine Dämmung krank werden; sie wollen eine gut belüftete Wohnung haben und nehmen Mehrkosten in Kauf. Auch hier gilt, dass Aufklärung zum eigenverantwortlichen Handeln beiträgt.

Insgesamt beunruhigt die Idee des Nudging. Sie ist mit Sicherheit paternalistisch; ob sie libertär ist, kann bezweifelt werden, sie scheint noch nicht einmal liberal zu sein. In einer offenen Gesellschaft freier Menschen muss jede(r) allein darüber befinden dürfen (und – das kommt mit der Freiheit – müssen), wie sie oder er lebt. Ungesundes Essen oder ein hoher Energieverbrauch muss erlaubt sein; die Konsequenzen trägt ja schließlich die Betroffene. Je mehr sich Regierungen direkt um das Glück der Menschen kümmern wollen, desto unfreier werden diese.

Eine Gesellschaft, in der die Politik sich direkt in das Glück der Bürger einzumischen versucht, anstatt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass jeder seines eignen Glückes Schmied sein kann, ist auf dem Weg in den Totalitarismus – oder wie es im Englischen so schön heißt: „The road to hell is paved with good itentions“ („Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“).

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