Seit der Entscheidung der britischen Bevölkerung für den Brexit am vergangenen Donnerstag sind sehr viele Kommentare, Erklärungen und Vorschläge zur Zukunft der Europäischen Union (EU) abgegeben worden; es gab einige Drohungen gegen das Vereinigte Königreich.
Besonders interessant war die Reaktion der Spitze der europäischen Institutionen, insbesondere vom Kommissionspräsidenten und vom Parlamentspräsidenten. Wutschnaubend sei Martin Schulz gewesen; er verlangte eine schnelle Aufnahme der Austrittsverhandlungen, als ob er die Briten gar nicht schnell genug loswerden könnte.
Jean-Claude Juncker hat in seiner ersten Stellungnahme wieder die europäischen Werte betont und die weitere Vertiefung verlangt. In einer nachgeschobenen Stellungnahme war sogar von der Vollendung der Währungsunion die Rede.
Zudem kündigte Juncker an, das umstrittene CETA-Abkommen an den nationalen Parlamenten vorbei beschließen zu wollen. Ähnlich liest sich das Positionspapier von Martin Schulz und Sigmar Gabriel, das unter dem Titel „Europa neu gründen“ vor allem mehr Ressourcen zentral verausgaben und den Wachstumsaspekt des Stabilitäts- und Wachstumspaktes stärken will.
Die Reaktion dieser Politiker ist einigermaßen verstörend.
Großbritannien und die EU - eine schwierige Beziehung
Seit mehr als 43 Jahren sind die Briten Mitglied der Europäischen Union. Doch jetzt ist der Austritt beschlossene Sache. Schwierig waren die Beziehungen von Anfang an. Ein Rückblick:
Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt.
Der französische Präsident Charles de Gaulle legt sein Veto gegen eine Mitgliedschaft der Briten in der EWG ein. 1973 tritt Großbritannien schließlich doch bei.
Erst nachdem Premier Harold Wilson die Vertragsbedingungen nachverhandelt hat, sprechen sich die Briten in einem Referendum mit 67,2 Prozent für einen Verbleib in der Gemeinschaft aus.
Mit den legendären Worten „I want my money back“ (Ich will mein Geld zurück) handelt die konservative britische Premierministerin Margaret Thatcher den sogenannten Britenrabatt aus. London muss fortan weniger in den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft (EG) einzahlen.
EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit.
Der britische Premier John Major kündigt eine europafreundliche Politik seiner Konservativen Partei an, scheitert damit aber parteiintern. Er handelt aus, dass London nicht am Europäischen Währungssystem teilnimmt.
Der britische Premier Tony Blair gerät mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac über ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ in Streit.
Blair lässt einen EU-Gipfel zum mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union (EU) scheitern, stimmt Monate später aber doch zu und akzeptiert ein Abschmelzen des Britenrabatts.
Mit Inkrafttreten des EU-Vertrages von Lissabon kann London wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkt die britische Regierung den Ausstieg aus mehr als 100 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag.
Der britische Premier David Cameron verweigert seine Zustimmung zum EU-Fiskalpakt.
Cameron droht mit einem Veto bei den Verhandlungen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU.
Cameron kündigt eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der EU bis spätestens 2017 an. Bis dahin will er die Rolle seines Landes in der EU neu aushandeln und Befugnisse aus Brüssel nach London zurückholen.
London blockiert den Aufbau einer Europäischen Verteidigungsunion und lehnt grundsätzlich Doppelstrukturen von EU und Nato ab.
Nach Zugeständnissen der EU kündigt Cameron für den 23. Juni ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU an.
Bei der Volksabstimmung votieren fast 52 Prozent der Briten für den Austritt.
Gesinnungsethik vor Verantwortungsethik
Sie erinnert ein wenig an die DDR-Regierung im Oktober 1989, als Erich Honecker zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR seinen putzigen Satz „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ vortrug. Diese reflexhaft vorgetragene Vertiefungsrhetorik macht Sorgen: Offenbar zählt in Brüssel Gesinnungsethik mehr als Verantwortungsethik und werden recht deutliche Signale schlicht überhört.
Um nicht missverstanden zu werden: Die europäische Integration ist ein erfolgreiches Freiheits- und Friedensprojekt – und gerade kein Sozialismus, wie manche behaupten.
Sie zu bewahren ist für die Zukunft des Kontinents lebenswichtig. Allerdings gibt es sehr verschiedene Herangehensweisen an diese Aufgabe. Zwei extreme Narrative konkurrieren hier grundsätzlich, irgendwo zwischen ihnen liegt die richtige Entwicklung, um die es zu ringen gilt:
Das erste Narrativ beginnt regelmäßig mit dem Europa der Väter und den europäischen Werten. Um diese dauerhaft zu bewahren, darf es keinen Stillstand geben, so die Erzählung. Sie endet ebenso regelmäßig in der Forderung der Vergemeinschaftung von immer mehr Politikbereichen in einer politischen Union.