Vor einigen Wochen meinte der renommierte Ökonom Marcel Fratzscher, eine Erklärung dafür geliefert zu haben, dass vor allem deutsche Ökonomen sich gegen die Niedrigzinspolitik und Geldschwemme der EZB aussprechen: Sie seien halt ordnungsökonomisch geschult und könnten sich nicht in die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts hineindenken, oder so ähnlich. Ist es wirklich so einfach? Verstehen ordnungspolitisch geprägte Ökonomen die Welt nicht mehr?
Oder haben sie einfach einen anderen Zugang zur Politik als diejenigen, die Lehrbuchmodelle anwenden und auf den wohlwollenden Diktator – in diesem Fall Herrn Draghi – setzen.
Vielleicht hilft ein kurzer Exkurs zu den Grundlagen der Ordnungspolitik. Ausgangspunkt ist die Vorstellung, dass alle Akteure im Wirtschaftsgeschehen, d.h. Produzenten, Konsumenten und wirtschaftspolitische Entscheidungsträger nur dann im Interesse des Gesamten, pathetisch formuliert: des Gemeinwohls agieren, wenn sie Regeln unterworfen sind.
Diese Vorstellung ist geprägt von den Erfahrungen der Weimarer Republik und den Jahren des Totalitarismus danach. Die Regeln sind nicht beliebig, sondern basieren auf theoretischen Überlegungen und empirischer Evidenz. Die inhaltlichen Vorstellungen über die Regeln dürfte sich bei Herrn Fratzscher und den Ordnungsökonomen kaum unterscheiden.
Unfähige Regierungen sind schuld an Hyperinflation
In der Geldpolitik sind diese Regeln sogar durch die relativ moderne Forschung zur Zeitinkonsistenz von Regeln unterstützt worden: Die Überlegungen basieren auf der Erkenntnis, dass sämtliche Hyperinflationen der Menschheit (also zum Beispiel auch das römische Reich eingeschlossen) auf der Unfähigkeit von Regierungen zur Finanzierung ihres Haushalts beziehungsweise zum Ausgleich des Budgets – also Staatsfinanzierung durch die Notenpresse – bedingt sind. Deshalb bedarf es einfacher und durchsetzbarer Regeln, zum Beispiel des Verbots der Kreditvergabe durch die Zentralbank an den Staat.
Diese Literatur dürfte dem Präsidenten des DIW nicht völlig unbekannt sein. Wenn einem zudem die Ordnungsökonomik etwas verstaubt vorkommt, kann man sich ja außerdem an die Neuen Institutionenökonomik (NIÖ) wenden; sie ist in gewisser Weise eine junge Verwandte der Ordnungsökonomik. Ihre Kernthese besteht darin, dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung von den Werten, Normen und Regeln in einem Land, kurz dessen Institutionen, abhängt.
Neudeutsch: “Institutions matter!“ Die Kernbotschaft aller dreier Ansätze ist somit vergleichbar: Es kommt auf die Regeln beziehungsweise die Ordnung an. Im Vergleich zur klassischen Ordnungsökonomik á la Walter Eucken und Wilhelm Röpke, die ja spezifisch auf Deutschland abzielte, zeigt die NIÖ, dass die Regeln mit den Werten und Normen in einem Land kompatibel sein müssen, damit sie funktionieren und durchgesetzt werden.
Gemein ist allen drei Ansätzen zudem, dass sie nicht so naiv sind zu unterstellen, dass Wirtschaftspolitiker immer das sozial oder ökonomisch beste Resultat – oftmals aber nicht immer dasselbe – anstreben, also rein einer ökonomischen Rationalität folgen, sondern oftmals im Eigeninteresse, der politischen Rationalität, agieren.
Mit Eigeninteresse ist dabei keineswegs korruptes Verhalten oder Nepotismus, sondern Überlegungen zur Wiederwahl und eine gewisse Kurzfristigkeit gemeint. Dies lässt sich recht gut am Beispiel der aktuellen Geldpolitik zeigen, die zumindest als Nebenprodukt den Regierungen gesamtwirtschaftlich gebotene Reformen zum Beispiel der Arbeitsmarktregulierung erspart; darauf wird in der Freytags-Frage vom 15. April 2016 hingewiesen.
Die EZB regiert diesen Überlegungen zufolge auf politischen Druck reformunfähiger beziehungsweise - unwilliger Regierungen.
Die Ordnungsökonomik lebt
Ordnungsökonomen beziehen dieses Eigeninteresse explizit in ihre Überlegungen ein; sie argumentieren politökonomisch. Damit scheint der wesentliche Unterschied zwischen den scheinbar unmodernen Ordnungsökonomen und dem von Herrn Fratzscher identifizierten Mainstream festzustehen.
Aber stimmt die Analyse überhaupt? Sind Ordnungsökonomik, Institutionenökonomik und politische Ökonomik, auch als Public Choice bezeichnet, wirklich so unmodern? Kann man in der wirtschaftspolitischen Analyse wirklich darauf verzichten, politische Kalküle einzubeziehen.
Das Gegenteil ist der Fall. In Wirklichkeit ist derjenige unmodern, der darauf verzichtet und dessen wissenschaftliches Werk immer noch ausschließlich auf Optimalitätsüberlegungen und Gleichgewichten basiert. Dass diese Überlegungen nötig sind, um einen Beurteilungsmaßstab zu erhalten, ist unbestritten. Wer aber in der wirtschaftspolitischen Diskussion mitmischt – und das tut Herr Fratzscher – sollte die Anreizstrukturen aller Beteiligten in den Blick nehmen.
Der Instrumentenkasten der EZB
Wieder einmal blicken alle in der Euro-Schuldenkrise gebannt nach Frankfurt: die Europäische Zentralbank (EZB) soll es im schlimmsten Fall richten, mit ihrem Waffenarsenal intervenieren und so die Märkte beruhigen.
Zwar streiten sich Fachleute und auch die Notenbanker darüber, wie effektiv, nachhaltig und sinnvoll weitere Eingriffe der Geldpolitik sein könnten. Fest steht aber: die EZB verfügt als einzige Institution über einen gut gefüllten und theoretisch sofort verfügbaren Instrumentenkasten, um angeschlagenen Banken unter die Arme zu greifen, Institute im Falle eines Bank-Runs mit neuem Geld zu schützen und durch ihre Finanz-Feuerkraft wenigsten für eine begrenzte Zeit wieder für Ruhe an den Börsen zu sorgen.
Vor dem Wahlsonntag in Athen verdichten sich die Hinweise, dass die großen Notenbanken der Welt gemeinsame Sache machen und die Märkte mit Geld fluten könnten. Eine solche konzertierte Aktion der Zentralbanken gab es schon einmal - Anfang Oktober 2008, kurz nach dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers, als weltweit die Finanzströme zu versiegen drohten.
In der aktuellen Krise rund um die Überschuldung Griechenlands und anderer südeuropäischer Länder hat bislang nur die britische Notenbank angekündigt, dass sie gemeinsam mit dem Finanzminister in London ihren Bankensektor zum Schutz vor aus Griechenland überschwappenden Problemen mit 100 Milliarden Pfund fluten will. Am Freitag sorgte die Aussicht auf eine gemeinsame Intervention der Zentralbanken zunächst für bessere Stimmung an den Märkten.
Aktuell steht der Leitzins der EZB bei 0,75 Prozent. Die Notenbank kann natürlich jederzeit an dieser in normalen Zeiten wichtigsten Stellschraube drehen. Es wäre ein historischer Schritt: Noch nie seit Bestehen der Währungsunion lag der Schlüsselzins für die Versorgung des Finanzsystems mit frischer Liquidität niedriger.
Allerdings nimmt der Spielraum der EZB mit jeder weiteren Leitzinssenkung ab - schließlich rückt damit die Nulllinie unausweichlich immer näher. Fachleute erwarten, dass die Zentralbank mit weiteren Zinssenkungen so lange wartet wie nur möglich, um für den Fall echter Verwerfungen an den Finanzmärkten, wie sie etwa bei einem Austritt der Griechen aus der Euro-Zone drohen würden, noch Munition zu haben.
Um den Geldmarkt wiederzubeleben und die Banken zu ermuntern mehr Geld in den Wirtschaftskreislauf zu geben, könnte die EZB den sogenannten Einlagezinssatz auf null Prozent kappen. Dieser Zins liegt aktuell bei 0,25 Prozent. Das bedeutet, dass Banken, die keiner anderen Bank mehr trauen, immerhin noch Geld dafür bekommen, wenn sie überschüssige Liquidität bei der EZB parken. Bei einem Einlagezinssatz von einem Prozent entfiele der Anreiz dies zu tun. Doch ob die Banken der EZB den Gefallen tun oder das Geld dann lieber horten, ist fraglich. Aktuell parken sie jedenfalls knapp 800 Milliarden Euro in Frankfurt.
Im Dezember und im Februar ist es der EZB gelungen, mit zwei jeweils drei Jahre laufenden Refinanzierungsgeschäften die Gemüter der Banker wenigstens für eine Zeit lang zu beruhigen. Damals sicherten sich die Geldhäuser insgesamt rund eine Billion Euro bei der Zentralbank zum Billigtarif von nur einem Prozent.
Einige Experten glauben, dass weitere langlaufende Geschäfte dieser Art das durch die Unsicherheit über die Zukunft der Euro-Zone untergrabene Vertrauen wieder zurückbringen könnten. Die Banken, die sich um den Jahreswechsel bei der EZB bedient haben, sind allerdings ohnehin bis mindestens Ende 2014 abgesichert. Außerdem kann jede Bank darüber hinaus bei den wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäften der Notenbank aus dem Vollen schöpfen.
Damit den Banken die Sicherheiten nicht ausgehen, die diese als Pfand bei den Refinanzierungsgeschäften mit der Notenbank stellen müssen, kann die EZB weitere Erleichterungen bei den Anforderungen beschließen. Sie kann dabei auch selektiv nach Ländern vorgehen, um gezielter zu helfen. Allerdings sind Erleichterungen bei den Sicherheiten immer auch ein Politikum, weil dadurch die Risiken steigen, die die Zentralbank durch die Refinanzierung in ihrer Bilanz ansammelt. Im Fall der Fälle müssten diese von den Steuerzahlern der Mitgliedsländer getragen werden.
Die EZB hat seit Mai 2010 Staatsanleihen hoch verschuldeter Euro-Länder für mehr als 200 Milliarden Euro gekauft. Das im Fachjargon SMP (Securities Markets Programme) genannte Programm ist wegen seiner möglichen Nebenwirkungen in Deutschland und einigen anderen nord- und mitteleuropäischen Ländern umstritten. Es ruht derzeit, kann allerdings jederzeit wieder vom EZB-Rat in Kraft gesetzt werden.
Ob es allerdings noch seine erhofften positiven Wirkungen am Bondmarkt entfalten kann, ist unklar. Wegen der Erfahrungen bei der Umschuldung Griechenlands im Frühjahr dürften wenige private Investoren wie Banken oder Versicherungen der EZB folgen und wieder in den Markt gehen, weil sie fürchten, dass die Zentralbank erneut einen Sonderstatus als Gläubiger durchsetzen könnte, wie sie es im Fall Griechenland getan hat.
Theoretisch kann die EZB neben Staatsanleihen auch andere Arten von Wertpapieren kaufen und auf diese Weise Geld schaffen: zum Beispiel Bankschuldverschreibungen, Aktien und Unternehmensanleihen. Während der Ankauf von Bank Bonds eine durchaus denkbare Möglichkeit wäre, Liquidität bei den Banken zu schaffen, scheinen andere Wege wenig erfolgversprechend. So könnte die EZB wohl schlecht erklären, warum sie etwa Aktien von Banken kauft, nicht aber von Auto- oder Chemiekonzernen. Oder sie setzt sich dem Verdacht aus, der einen Bank mehr Aktien abzukaufen als anderen oder zum Beispiel spanische Institute deutschen oder österreichischen Banken vorzuziehen.
Theoretisch kann die EZB auch ihre Anforderungen an die Mindestreserve der Banken, die diese bei ihr halten müssen, absenken. Sie hat dies um den Jahreswechsel bereits getan und den Satz ihrer gesamten Einlagen, den jede Geschäftsbank bei ihr parken muss, von zwei auf ein Prozent halbiert. Dadurch hatte sie damals eine Summe von rund 100 Milliarden Euro für die Banken freigemacht. Ein solcher Schritt würde es für Banken in Südeuropa, die wohl am ehesten unter einer Kapitalflucht leiden würden, leichter machen, Mittel flüssig zu halten.
Politische Ökonomik ist amerikanischer Mainstream
Dies wird überall anerkannt. Institutionenökonomik und politische Ökonomik gehören in den Vereinigten Staaten inzwischen vielfach zum Mainstream. Anders als die Vertreter der NIÖ und der Ordnungsökonomik verwenden viele amerikanische Forscher dafür heute weitgehend formale Methoden, und das nicht nur für ihre empirischen Arbeiten. Das ist aber nur eine Frage der Praktikabilität und sollte der einzelnen Forscherin überlassen bleiben; da aber vor allem mathematisch anspruchsvolle Arbeiten (Eleganz vor Relevanz?) zur Publikation angenommen werden, besteht nach wie vor ein Bias zugunsten des auf Optima und Geleichgewichte abzielenden Mainstreams.
Der Bias wird aber verschwinden – er scheint sogar bereits auf dem Rückzug zu sein. Wichtig ist nämlich, dass es einen breiten Konsens darüber gibt, dass wirtschaftspolitische Relevanz sich nicht auf Optima und Gleichgewichte reduzieren lässt – es gilt, die Vielschichtigkeit des Prozesses zu verstehen. Dies berücksichtigt die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität, die am heutigen Freitag den Walter-Eucken-Preis verleiht.
Dieser Preis wird an Nachwuchswissenschaftler vergeben, die sich mit modernen Methoden wirtspolitisch relevanten Fragestellungen annähern.
Die Qualität der Bewerbungen für den diesjährigen Preis war erfreulich hoch, die Auswahl entsprechend schwer. Junge Forscherinnen und Forscher haben offenbar ein starkes Interesse an Ordnungsfragen, ohne einerseits auf dem methodischen Stand der Vorfahren zurückzubleiben und andererseits Glaubensbekenntnisse (ein korrekter Vorwurf an Ordnungsökonomen in den frühen 1990er Jahre, aber nicht mehr heute) vorzutragen. Angesichts zahlreicher gesellschaftlicher Probleme, zu deren Lösungen ökonomische Methoden von hohem Wert sind, ist es nachvollziehbar und zu begrüßen, dass junge Menschen den Elfenbeinturm gar nicht erst betreten wollen.
Der diesjährige Preisträger Stefan Bauernschuster hat genau diesen Spagat unternommen. Sein Forschungsgebiet umfasst arbeitsmarkt-, familien- und bildungsökonomische Fragestellungen. Er publiziert sehr gut und diskutiert relevante Probleme in seinem Feld. Die Ordnungsökonomik lebt!