Freytags-Frage

Wie müssen wir unser Bildungssystem umbauen?

Studenten sind gestresst, Hochschulen und Professoren frustriert. Das zeigt: Die deutsche Bildungspolitik steckt in der Krise und muss überdacht werden. Was die Politik tun sollte – drei Punkte.

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Quelle: dpa

In den letzten Wochen sind mehrere unscheinbare Nachrichten von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet gemeldet worden. Sie betreffen das deutsche Ausbildungssystem.

Zum einen zeigt eine von der AOK in Auftrag gegebene Befragung von etwa 18.000 Studenten in Deutschland, dass hiesige Studenten (damit sind alle an den Hochschulen eingeschriebenen jungen Frauen und Männer gemeint) sich im Durchschnitt gestresster fühlen als die Arbeitnehmer in Deutschland. In dieser Umfrage gaben 53 Prozent der Studenten an, gestresst zu sein – im Vergleich zu 50 Prozent der Arbeitnehmer. Dabei ist der größte Stressfaktor die Prüfungsvorbereitung. Studenten mit Nebenjob sind etwas weniger gestresst als der Durchschnitt; am höchsten ist der gefühlte Druck in Nordrhein-Westfalen.

Mehr oder weniger zeitgleich befragte das Allensbach-Institut etwa 1.150 deutschen Hochschullehrern über deren Zufriedenheit mit den Bedingungen für die Lehre an deutschen Hochschulen; die Ergebnisse lassen sich in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Forschung und Lehre (1/17, S. 974-6) nachlesen. Vor allem die Zunahme von administrativen Aufgaben wird als sehr belastend empfunden; es bliebe auch zu wenig Raum für Forschung, und die Drittmittelabhängigkeit sei zu hoch. Vernichtend fällt das Urteil über die Bologna-Reform der Hochschulen aus; vor allem wird bemängelt, dass durch den Bologna-Prozess die Studenten das selbständige Denken nicht mehr ausbilden könnten.

Die dritte Meldung hat keine bundesweite Aufmerksamkeit erzielen können, erschien sie doch im Lokalteil der Thüringer Landeszeitung vom 4. Januar 2017. Dort wird über ein erfolgreiches Jenaer Unternehmen berichtet, das die Ausbildung seiner Mitarbeiter selber sehr erfolgreich betreibt. Zwei Dinge fielen auf: Erstens sind viele Auszubildende Studienabbrecher, was für die Offenheit des Unternehmens, aber nicht für das Bildungssystem insgesamt spricht. Zweitens konnten im vergangenen Ausbildungsjahr nur etwas über die Hälfte der möglichen Ausbildungsplätze besetzt werden, weil die Bewerber, d.h. Schulabgänger nicht die benötigten Schlüsselqualifikationen aufwiesen.

Wie hängen diese Meldungen, die keineswegs auf Einzelfälle hinweisen, sondern recht repräsentativ sind, zusammen? Sie zeigen ein schlüssiges Gesamtbild deutscher Bildungspolitik auf, das vor allem durch fehlende Schlüssigkeit und einen Mismatch gekennzeichnet zu sein scheint. Wenn über die Hälfte der Studenten gestresst und die Hochschullehrer in ihrer überwiegenden Mehrheit durch die Konsequenzen der Hochschulpolitik frustriert sind und wenn Ausbildungsbetriebe keine geeigneten Kandidaten für ihre Lehrstellen finden oder diese vor allem aus dem Kreis der Studienabbrecher rekrutieren, sollte man sich die Frage stellen, ob das Bildungssystem Angebot an und Nachfrage nach Bildung adäquat zusammenbringt.

Gewinner und Verlierer im Porträt
SingapurUnd der PISA-Gewinner ist ... Singapur. Zwischen 42 und 74 Punkte liegt der südostasiatische Insel- und Stadtstaat über dem OECD-Schnitt von knapp 500 Zählern - das sind Welten. Auch andere Länder haben zuletzt die Ernte in der Bildungspolitik eingefahren. Chefkoordinator Andreas Schleicher sagt: „PISA spiegelt wider, was im Klassenzimmer passiert. Die Länder, die viel getan haben, sehen verbesserte Leistungen - und die Länder, wo wenig passiert, die sehen auch wenig Gutes.“ Weil die Großregion Shanghai als PISA-Champion von 2012 diesmal nicht mehr einzeln neben China bewertet wurde, setzte sich der kleinste Flächenstaat Südostasiens (5,5 Millionen Einwohner) mit durchschnittlich 551 PISA-Punkten an die Spitze aller drei Rankings. „Dort hat jeder Lehrer etwa 100 Stunden Weiterbildung pro Jahr“, sagt „PISA-Papst“ Schleicher über Singapurs Erfolgsgeschichte. „Jede Schule unterhält professionelle Arbeitsgruppen, in denen Lehrer ihren Unterricht gemeinsam vor- und nachbereiten.“ Andere Experten heben hervor, dass dort die Unterrichtsräume hochmodern ausgestattet sind (auch in puncto digitale Medien) und dass in der Methodik „alte Zöpfe“ abgeschnitten wurden. „Pädagogische Forschung findet nicht nur an der Universität statt, sondern in den Schulen“, sagt Schleicher. Quelle: dpa
KanadaDer nordamerikanische Flächenstaat (durchschnittlich 523 PISA-Punkte) will nächstes Jahr rund 300 000 Einwanderer aufnehmen - mit guten bildungspolitischen Erfolgsaussichten. Im Gegensatz zum Nachbarland USA ist Kanada laut PISA-Chef Schleicher Musterknabe bei der schulischen Integration. Kinder aus Migrantenfamilien, besonders aus China, Indien und anderen asiatischen Ländern, schneiden in der Schule oft besser ab als Kinder kanadischer Eltern. Im OECD-Vergleich liegen sie ebenfalls vorn, etwa bei Leseverständnis und Mathematik. Viele Schulen helfen Familien in Willkommenszentren im ungewohnten Alltag. Und da Kanada Migranten teils nach vier Jahren Aufenthalt ermöglicht, Staatsbürger zu werden, sind die Lernanreize groß. Quelle: REUTERS
Finnland und SchwedenBeide skandinavischen Länder gelten als Vorbilder in Sachen Bildungspolitik. In Finnland (jetzt 522 PISA-Punkte im Schnitt) ist die Zufriedenheit nach wie vor hoch. Wegen der wirtschaftlichen Probleme wurde zuletzt aber auch an den Schulen der Rotstift angesetzt. Viele befürchten, dass die Qualität darunter leiden könnte. Geld wird in die Digitalisierung gesteckt - so sollen mehr Schüler mit Tabletcomputern arbeiten können. In Schweden gab es in den vergangenen Jahren manche Enttäuschung über das Abschneiden bei den internationalen Tests. Eine große Debatte entbrannte, als das Land 2012 unter den OECD-Schnitt abstürzte. Die rot-grüne Regierung versucht nun, das Niveau mit viel Einsatz für kleinere Klassen, einen attraktiveren Lehrerberuf und mehr Gleichheit an den Schulen zu heben. Der PISA-Punkteschnitt stieg soeben von 482 auf 495.
PolenMit im Schnitt 504 Punkten (nur knapp hinter Deutschland) gehört der Nachbar zu den bei PISA so starken östlichen EU-Ländern - dank einer ruhigen, konsequenten Bildungspolitik. „1999 wurde eine große Schulreform eingeleitet. Die wurde dann ein Jahrzehnt lang, über Parteigrenzen hinweg und trotz Regierungswechseln, Schritt für Schritt umgesetzt“, lobt OECD-Fachmann Schleicher. „Da wusste jeder Lehrer, was kommt.“ Der Erfolg wird auf die vor 17 Jahren eingeführten Mittelschulen zurückgeführt. Das Leistungsniveau wurde angehoben und die Chancengleichheit auf ein gutes Abitur erhöht, heißt es. Doch nun sehen Experten die Erfolge durch eine hastig vorangetriebene neue Schulreform bedroht: Polens Nationalkonservative wollen die Mittelschulen zum nächsten Schuljahr wieder abschaffen. Quelle: AP
KolumbienDas südamerikanische Land arbeitet sich auf den PISA-Ranglisten von ganz unten in Richtung Mittelfeld vor: Nach 392 PISA-Punkten im Schnitt (2012) sind es jetzt immerhin schon 410. „Es gab dort bis in die 90er Jahre überhaupt kein Schulsystem. Heute steht man auf dem Niveau von Mexiko - bei deutlich geringerem Ressourceneinsatz für Bildung“, sagt Schleicher. Bildungsexperte Pablo Gentili hebt hervor, Kolumbien sei ein Land, das gut 50 Jahre im Kriegszustand gelebt habe - mit über fünf Millionen Vertriebenen. Nun aber sei das System auf „permanentes Lernen“ ausgerichtet, auch kulturelle und soziale Belange spielten eine Rolle. Der Staat sorgt dafür, dass es überall adäquates Schulmaterial gibt. Mit zwei Jahren kommen Kleinkinder in Kitas, Schulen laufen meist im Ganztagsbetrieb. Dort werden nun Krieg und Friedensprozess verstärkt thematisiert. Quelle: dpa
Frankreich Im Schulsystem des westlichen Nachbarn klafft ein Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Im Land von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beschwören Politiker die Schule oft als Motor für soziale Gerechtigkeit und Integration. Seit 1975 gibt es ein Gesamtschulmodell - alle Kinder gehen nach der Grundschule auf das Collège. Doch die PISA-Studien zeigen seit Jahren wachsende Ungleichheiten. Im breiten PISA-Mittelfeld ist Frankreich abgerutscht - von fast 500 auf zuletzt 495 Punkte im Schnitt. Wissenschaftler verweisen auf veraltete Lehrmethoden und die soziale Ghettobildung in wirtschaftlich abgehängten Vorstädten. Obwohl die Politik dort eigentlich mehr Geld bereitstellen will, ist die Unterrichtsqualität schlechter geworden, kritisiert ein unabhängiges Expertengremium. „In Bezug auf die soziale Kluft steht Frankreich deutlich schlechter da als Deutschland“, bestätigt auch PISA-Experte Schleicher. Quelle: dpa

Im Detail stellen sich vor allem folgende Fragen:

1.    Bereiten die Schulen die Schulabgänger angemessen auf die Herausforderungen der tertiären Ausbildung vor? Dies ist eine sehr generelle Frage, die nicht einfach mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann. Aber es macht Sorge, dass eine nicht-triviale Teilmenge der Schüler die Schule ohne Abschluss beendet und dass andere mit Abschluss sowohl für Lehrstellen ungeeignet als auch an den Hochschulen überfordert zu sein scheinen. Diese Frage ist eher eine Niveaufrage: Können die Schulabgänger genug?

2.    Sind sämtliche Studenten wirklich geeignet für ein Studium? Eigene subjektive Erfahrungen sowie der Befund der Umfrage deuten darauf hin, dass viele Studenten nicht die Ausbildung gewählt haben, die ihren Fähigkeiten und Interessen gerecht wird. Dies ist eher ein Strukturproblem als ein Niveauproblem.

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