Freytags-Frage

Wieso ist die Mittelschicht so verunsichert?

Den Deutschen geht es ökonomisch gesehen gut. Dennoch hat die Mittelschicht große Sorgen und Abstiegsängste. Fünf Thesen, warum die Mittelschicht verunsichert ist und wie Politik und Gesellschaft regieren sollten.

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Den Deutschen geht es ökonomisch gesehen gut, dennoch ist die Mittelschicht verunsichert. Quelle: dpa

In dieser Woche hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in zwei Studien auf fundamentale gesellschaftliche Probleme verwiesen, deren Lösung zentral ist, wenn wir dauerhaft in einer stabilen und demokratischen politischen und wirtschaftlichen Ordnung leben wollen.

Zunächst wurde am Montag in einer Kurzstudie gezeigt, welche Gründe es dafür geben kann, dass Menschen populistischen Parteien folgen und diese wählen. Die vom Institut benannten Gründe sind die folgenden:

  • Zunächst gibt es offensichtlich ein zunehmendes Empfinden von Elitenversagen, das sich an zahlreichen Beispielen individueller Fehlleistungen von Politikern oder Managern entzündet. Dieses Gefühl hat sicherlich entscheidend zum Wahlausgang in den Vereinigten Staaten beigetragen und sorgt auch in Europa für Auftrieb der Populisten links und rechts.
  • Viele Bürger scheinen sich an aus ihrer Sicht zu intensiven Debatten um Minderheiten zu stören. Dazu spiegelbildlich wird dann eine Vernachlässigung der Mehrheit empfunden. In diesem Zusammenhang wird zudem überbordende politische Korrektheit beklagt.
  • Hinzu kommen nicht genau identifizierte Milieuveränderungen (Auseinanderdriften von „unten“ und „oben“) und veränderte Arbeitswelten.
  • Ein weiterer Treiber sind soziale Medien, die es erlauben, unbewiesene Thesen aufzustellen und schnell zu verbreiten. Davon können die Populisten sehr offenkundig viel besser Gebrauch machen als an Fakten Interessierte. Das überrascht insofern nicht, als dass es nicht leicht ist, komplexe Zusammenhänge mit 140 Zeichen überzeugend und differenziert darzustellen.
  • Denn schließlich wirken (und sind) das Geschehen auf den Weltmärkten und dessen Folgen besonders komplex. Arbeitsteilung ist die Quelle des Wohlstandes, und zwar sowohl innerstaatliche als auch grenzüberschreitende Arbeitsteilung. Im Strukturwandel scheiden Unternehmen aus und gehen Arbeitsplätze verloren. Bei Offenheit der Märkte entstehen neue Arbeitsplätze. Die Zusammenhänge werden nicht mehr verstanden, was direkt Verlustängste auch in einer breiten Mittelschicht bewirkt. Die Verfasser im IW verweisen in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Medien, die schlechte Nachrichten guten Nachrichten vorzögen.

Gerade der letzte Punkt ist besonders bemerkenswert, weil dasselbe Institut zwei Tage später eine neue Studie zur Einkommensverteilung in Deutschland veröffentlicht hat, in der im Wesentlichen gezeigt wird, dass der Anteil der Bevölkerung mit mittlerem Einkommen – unabhängig von der genauen Definition des entsprechenden Bereichs in der Einkommensverteilung – im Zeitablauf etwa gleichgeblieben ist.

Eine Spaltung der Gesellschaft mit Blick auf die Einkommensstatistik kann also nicht nachgewiesen werden. Dennoch ist die Mitte unzufrieden und hat Abstiegsängste, die sich auch im Wahlverhalten niederschlagen.

Ängste sind wichtig

Vor diesem Hintergrund ist die Frage zu beantworten, was die Verlustängste bewirkt, wenn die Verluste nicht nachweisbar sind. Die Beantwortung dieser Frage sowie die Überwindung der Ängste sind für die offene Gesellschaft überlebenswichtig. Verschiedene Gründe sind denkbar.

  • Erstens könnte es sein, dass die Verlustängste nicht begründet sind. In diesem Fall würden sie künstlich durch Politiker oder Medien geschürt. An dieser Argumentation stimmt wohl, dass gerade die Linkspartei und die AfD ständig Behauptungen aufstellen, die Ängste auslösen. Von Spaltung der Gesellschaft und Vergleichen mit einem Feudalsystem ist bei der Linkspartei die Rede. Die AfD erfindet unerträgliche Bedrohungen beziehungsweise kriminelle Handlungen durch Ausländer in Gegenden, in denen kaum Ausländer leben. Die Grünen behaupten, Freihandel töte. Allerdings reicht solche Propaganda nicht aus – derart dumme Behauptungen brauchen einen Resonanzboden.
  • Dieser ist zweitens dadurch gegeben, dass es subjektiv empfundene und objektiv belegbare Ungereimtheiten gibt. So wird es trotz guter Gehälter offenkundig immer schwieriger für viele Menschen, sich in Ballungsgebieten Wohneigentum zu leisten beziehungsweise sogar dort überhaupt zu leben. Die Preise für Immobilien sind stark gestiegen, ohne dass die Bevölkerung stark gewachsen ist. Verantwortlich dafür sind politisch verursachte Kostensteigerungen (Stichworte sind Klimaschutz oder Grunderwerbsteuern), aber auch die extrem laxe Geldpolitik, die zu einer Vermögenspreisinflation geführt hat.
  • Die Geldpolitik trägt drittens zur Ungerechtigkeit und damit zur Unzufriedenheit der Mitte bei, denn sie führt zu einer Umverteilung von unten nach oben. Wer viel Vermögen hat, das sie oder er streuen kann, profitiert von der Geldmengenexpansion und dem niedrigen Zins. Wer hingegen kleinere Beträge sparen will und wenig Risiko eingehen kann, dürfte eher verlieren, da selbst bei geringen Inflationsraten eine Anlage zum Nullzins Vermögensverluste bedeutet.
  • Gegenwärtig, da aber die Inflation bei uns anzieht, dürfte viertens der Kaufkraftverlust gerade in der Mittelschicht die Unzufriedenheit weiter stärken. Nun entwertet sich nicht nur das Vermögen, auch die laufenden Einkommen werden weniger wert
  • Schließlich gibt es durchaus Mitglieder der sogenannten Elite, die sich ihrer Verantwortung nicht bewusst sind. Sie verteilen weiterhin Boni untereinander (und das in Sektoren, die gerade von den Steuergeldern der Mitte gerettet worden sind) oder empfinden wenig Scham, wenn ihnen Betrug am Kunden nachgewiesen wurde. Als Zugeständnis verlassen sie ihre Posten, aber nicht ohne sich großzügig abfinden zu lassen. Das schafft Verdruss.
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Somit ist es durchaus nachvollziehbar, dass Menschen aus der Mittelschicht nicht zufrieden sind. Ob sie deshalb gleich anti-demokratische Parteien wählen müssen, steht auf einem anderen Blatt. Die Analysen des IW enthalten aber auch gute Nachrichten. Denn sie geben im Grunde die Richtung vor, in der sich rationale Politik bewegen muss. Dies ist nicht der Ort für eine politische Blaupause, die ohnehin nicht auf wenige Seiten passt und intensiver Diskussionen bedarf, aber es sollte jedem klar sein, dass es einige wichtige Felder gibt.

Dazu gehört, dass die Geldpolitik auf den Prüfstand gestellt werden muss. Sie droht, die wirtschaftliche und politische Ordnung zu zerstören, weil sie das Fundament einer Marktwirtschaft, die relativen Preise, außer Kraft setzt. Darüber hinaus ist eine zentrale Schaltstelle die Bildungspolitik. Bessere Kenntnisse der Bevölkerung über ökonomische Zusammenhänge machen es rechten und linken Rattenfängern schwerer, mit genauso simplen wie falschen Thesen („Ausländer sind Schuld an der Arbeitslosigkeit“, „TTIP tötet!“) Erfolg zu haben.

Lebenslanges Lernen erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, bei Jobverlust im Strukturwandel schneller wieder in ein Arbeitsverhältnis zu kommen. Außerdem kann man den politischen Parteien nur raten, nicht so sehr mit der Angst zu spielen, wenigsten dann, wenn sie den Anspruch haben, politisch zu gestalten und regierungsfähig zu sein.

Vor diesem Hintergrund muss es nachdenklich machen, dass die Sozialdemokraten nun auch begonnen haben, mit der Angst der Menschen zu spielen. Besser wäre es, Wahlkampf konstruktiv zu führen, das heißt Lösungen anzubieten.

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