Gabriel bei Tsipras in Griechenland Rot-Rot für Europa

Vizekanzler Sigmar Gabriel wirbt in Athen für deutsche Investitionen. So der Plan. Doch eine Woche nach dem Brexit geht es plötzlich um viel mehr: um Europas Zukunft. Und seine eigene.

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Tsipras, Gabriel Quelle: REUTERS

Sigmar Gabriel steht jetzt schon einige lange Minuten in der unerbittlichen Mittagssonne vor dem Amtssitz des griechischen Premiers und redet trotzdem unablässig in die aufgebauten Kameras. Gerade hat er sich herzlich von Alexis Tsipras verabschiedet.

Das Gespräch hat deutlich länger gedauert als die eingeplante Stunde, der griechische Wirtschaftsminister - mit dem Gabriel sich eigentlich danach treffen wollte - wurde einfach dazu geholt. Ein gutes Zeichen. Gabriel redet über mehr private Investitionen in Griechenland, über bessere Verwaltung, und was deutsche Firmen dem Land zu geben hätten.

Die Hitze drückt. Aber der Vizekanzler ist zufrieden. Dann fällt das Wort der Stunde. Brexit.

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Und Gabriel schaltet sofort noch einen Gang höher. "Europa darf sich nicht aufspalten", sagt er. Der Kontinent müsse seine drei Versprechen wieder einhalten: Frieden, Demokratie, aber vor allem auch "Wohlstand für alle - und den realisieren wir gerade nicht". Während seines Gesprächs mit Tsipras landet in Athen die Nachricht, dass Boris Johnson in London nicht britischer Premierminister werden will. Als Gabriel deshalb gefragt wird, ob das ein Thema gewesen sei, kommt ein wenig Spott in sein Gesicht. "Wir haben Wichtigeres zu tun gehabt."

Die Reise des deutschen Wirtschaftsministers nach Athen war lange geplant. Griechenland, das war über Jahre nur Krise, Chaos, Eurodämmerung. Nun, so langsam, zeigen sich trotz schlechter Stimmung in der Bevölkerung zarte Zeichen der Stabilisierung. Erste Reformen im Gegenzug für die EU-Milliarden aus dem ESM-Hilfstopf sind in Kraft getreten.

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40 Unternehmensvertreter hat Gabriel im Tross dabei, um ihnen nun weitere Türen für die deutsche Wirtschaft zu öffnen. So langsam wächst auch in der linken Syriza-Regierung die Ahnung, dass staatliche Investitionen alleine das Land nicht aus der Rezession holen werden.

Doch eine Woche nach der so überraschenden wie historischen Entscheidung der Briten ist der zweitägige Besuch Gabriels in Athen auf einmal mehr als die übliche politische Promotion-Tour für deutsches Wirtschafts-Know-how, kein normaler Regierungsstandard. Sondern ein Versuch, Antworten auf die neue, drängende gesamteuropäische Krise zu formulieren. In einem Brief an die Mitarbeiter der Bundeswirtschaftsministeriums, der am Freitag öffentlich wurde, fordert Gabriel eine "wirtschaftliche Trendwende". Deren Ziel müsse mehr Wachstum, Beschäftigung und der Abbau sozialer Ungleichheiten sein.

Sonst drohte Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaften. Im Zuge dessen müsse der EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt wachstumsfreundlicher angewandt und flexibler gestaltet werden. Gabriel spricht von einer "Reform des Pakts". Es müssten in den nationalen Haushalten "größere Spielräume für eine offensive Investitionspolitik" geschaffen werden.

Die Botschaft ist eindeutig: der SPD-Chef und Vizekanzler skizziert eine Alternative zum Kurs der Bundeskanzlerin.

"Weckruf für Europa"

Die linke Gallionsfigur Tsipras kommt Gabriel da gerade recht. Die beiden haben kaum Platz genommen auf Tsipras' Bürosofa, da ist das Wirtschafsförderungs-Kleinklein schon weit weg. Der Brexit sei ein "Weckruf für Europa", meint der Grieche zu Gabriel. Man brauche dringend Wachstum statt "Austerität".

Der Vizekanzler meidet das A-Wort zwar geflissentlich, aber sonst ist er ganz auf einer Linie: "Wir müssen Europa zusammen bringen, der Kontinent ist gespalten", antwortet er. Die beiden sitzen nah beieinander, man ist sich einig.

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Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Die Spaltung in Arm und Reich nähre den Populismus. Deutschland, sagt Gabriel wenig später, müsse endlich "aufhören, so zu tun, als seien wir die Lastesel Europas". Gegen die griechischen Reformen bei Renten und Steuern sei die Agenda 2010 "doch nur ein laues Lüftchen" gewesen. Vergessen, wie Gabriel selbst zu Hochzeiten der Eurokrise auf die Griechen schimpfte.

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Die Botschaft ist klar: Mehr Europa, das ist für Gabriel ein investierendes und definitiv kein sparendes Europa mehr - sonst greife die Depression, gerade unter den Armen, Arbeitslosen EU-Bürgern weiter um sich. Dass Gabriel sich damit absetzt von Merkelscher "Ruhe und Besonnenheit" und Wolfgang Schäubles fortdauernder Sparliebe - in seinen Augen umso besser. Es passt ohnehin zu dem Linksschwenk, den Gabriel in den vergangenen Wochen vollzogen hat.

Zuerst betonte der SPD-Chef auffallend häufig, die Sozialdemokraten müssten wieder Schutzmacht der kleinen Leute werden. Dann forderte er in einem Essay ein Bündnis aller "progressiven" Kräfte gegen den grassierende Rechtspopulismus in Europa, der überall auch als das gelesen wurde, was er war: eine Aufforderung an die deutsche Linke, ernsthaft koalitionsfähig zu werden.

von Gerd Höhler, Klaus Stratmann

Unmittelbar nach der britischen Brexit-Entscheidung hatte Gabriel mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ein Reformpapier lanciert. Nun der dezidierte Schulterschluss mit Tspiras.

Am Abend hält Gabriel eine Rede vor der deutsch-griechischen Handelskammer. Er spricht von "einer besseren Zukunft als der Gegenwart", von Wachstum und europäischen Solidaritätsgeist. Die Vorspeise danach lässt der Vizekanzler sausen. Er hat noch einen weiteren Termin jenseits des offiziellen Programms. Er trifft sich noch einmal zum informellen Abendessen mit Tsipras: weiter an der besseren Zukunft arbeiten - seiner eigenen.

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