Gabriel und Merkel Berlin im Wahlkampfmodus

SPD-Chef Gabriel attackiert ein Jahr vor der Bundestagswahl die Kanzlerin. Die CDU-Vorsitzende vermeidet einen Schlagabtausch, stellt aber einem Bericht zufolge bereits die Weichen für ihre Kanzlerkandidatur.

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Absetzbewegungen vor der Bundestagswahl 2017: Der Vizekanzler Gabriel kritisiert die Politik der Bundeskanzlerin. Quelle: dpa

Berlin Sigmar Gabriel (SPD) geht zum Angriff über. Der Bundeswirtschaftsminister kritisierte die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Sommerinterview des ZDF. Die CDU habe den Zustrom an Flüchtlingen unterschätzt, Deutschland könne nicht jedes Jahr eine Million Menschen aufnehmen, sagte Gabriel gestern im Gespräch mit Moderator Thomas Walde.

„Es reicht nicht, wenn Merkel ständig sagt: ‘Wir schaffen das.‘ Sie muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir es schaffen”, so Gabriel weiter. Er warf der CDU vor, die Integrationspolitik im vergangenen Jahr immer wieder blockiert zu haben. Gabriel selbst forderte erneut eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Angela Merkel ließ sich jedoch auf einen Schlagabtausch mit ihrem Vizekanzler, knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl, nicht ein. In dem ARD-Sommerinterview, das kurze Zeit später aufgezeichnet wurde, verwies Merkel darauf, dass die erfolgreiche Integration auch das Ziel der SPD sei: „Wir haben alles gemeinsam beschlossen“, sagte die Kanzlerin den Moderatoren Tina Hassel und Thomas Baumann und verteidigte damit ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“. Es sei vieles erreicht worden. „Wir stehen heute ganz anders da als noch vor einem Jahr“, so die Kanzlerin. Als Beispiele nannte sie das Integrationsgesetz, die Geldspritzen für die Kommunen und die zusätzlichen Mitarbeiter beim Bundesamt für Migration.

Merkel weicht im Interview der K-Frage aus. Sie werde „zu gegebenem Zeitpunkt” entscheiden, ob sie erneut als Spitzenkandidatin für die Union antrete, sagt sie einmal mehr. Dies betreffe auch ihre Kandidatur als CDU-Vorsitzende auf dem Parteitag Anfang Dezember.
Doch offenbar will sich die Kanzlerin schon in wenigen Monaten festlegen – und damit die Weichen für die Bundestagswahl 2017 stellen: Merkel will sich nach „Bild“-Informationen schon auf dem Bundesparteitag im Dezember als neue Kanzlerkandidatin der Union präsentieren. Prominente Vertreter der CDU-Spitze rechnen demnach damit, dass sich Merkel in Essen für weitere zwei Jahre als Parteivorsitzende zur Wahl stellen und beide Kandidaturen miteinander verknüpfen wird - aus taktischem Kalkül heraus, um ihre parteiinternen Kritiker im Schach zu halten, berichtet die Zeitung heute.

In dem „Bild“-Bericht heißt es, wegen des Unmuts über Merkels Flüchtlingspolitik werde ein erheblicher Dämpfer bei der Wahl zum CDU-Vorsitz befürchtet - und die Verkündung ihrer Kanzlerkandidatur vor der Abstimmung sei dazu geeignet, das Ergebnis deutlich aufzupolieren. Denn wer dann noch gegen sie stimme, schmälere die Erfolgschancen der CDU im Wahlkampf. „Das diszipliniert“, zitierte das Blatt ein namentlich ungenanntes Präsidiumsmitglied. Dass CSU-Chef Horst Seehofer eine deutlich frühere Verkündung der Kandidatur nicht gut heiße, sei bereits Thema eines Vier-Augen-Gesprächs mit Merkel gewesen.


Taktiererei wegen Seehofer?

„Der Spiegel“ hatte zuvor berichtet, Merkel wolle ihre Entscheidung für eine erneute Kanzlerkandidatur wohl erst im Frühjahr 2017 bekannt geben. Grund dafür sei, dass Seehofer - Merkels unionsinterner Widersacher in der Flüchtlingspolitik - erst dann entscheiden wolle, ob seine Partei Merkel wieder unterstütze, berichtete das Magazin unter Berufung auf CDU-Kreise. Das aber sei für Merkel problematisch, da sie eine Wiederwahl zur CDU-Vorsitzenden gegenüber ihrer Partei nur bei einer erneuten Kanzlerkandidatur vertreten könne.

In Berliner Regierungs- und Parteikreisen hieß es daraufhin am Wochenende, die Kanzlerin werde ihren Entschluss voraussichtlich frühestens auf dem CDU-Parteitag in Essen öffentlich verkünden.

Nach Darstellung des „Spiegel“ hatte Merkel ursprünglich geplant, schon im Frühjahr 2016 zu erklären, ob sie noch einmal Kanzlerin werden wolle. Wegen der Flüchtlingskrise und des Streits mit Seehofer habe sie dies zunächst auf den Herbst verschoben. Doch auch dieser Zeitplan sei wegen Seehofers fehlender Rückendeckung nicht zu halten gewesen.

Merkel erinnerte auch an die gemeinsame Aufgabe der EU. Die Flüchtlingskrise könne nur europäisch gelingen. „Es geht nicht, dass einige Länder sagen, sie wollen keine Muslime aufnehmen.“ Wie diese europäische Lösung konkret aussehen soll und ob es eine Verteilung der Flüchtlinge nach einer Quote geben wird, das ließ die Kanzlerin offen.

Zu der Lage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch und den Maßnahmen von Präsident Erdogan sagte Merkel: „Nach unseren Vorstellungen der Demokratie sind wir natürlich nicht mit allem in der Türkei einverstanden“. Am Dienstag hatte Merkel noch Aufsehen mit der Aussage erregt, sie erwarte von Türkischstämmigen, die schon lange in Deutschland leben, Loyalität gegenüber Deutschland. Im Interview stellte sie klar, ihr sei es lediglich darum gegangen, „dass Konflikte in der Türkei nicht nach Deutschland getragen werden“. „Ich bin auch Kanzlerin der Deutschtürken“, so Merkel. Sie wünsche sich aber auch, dass diejenigen, die schon lange in Deutschland leben, sich in die Entwicklung unseres Landes mit einbringen – sie könne aber natürlich niemanden verpflichten.

Gabriel hatte zuvor die Türkei-Politik der Kanzlerin kritisiert: „Wahrscheinlich hätten wir schneller hinfahren müssen – am selben Tag oder am Tag danach. Wahrscheinlich hätten wir viel stärker unsere emotionale Beteiligung zeigen müssen“, sagte er beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung in Berlin. Türkischstämmige Mitbürger fühlten sich von Deutschland zurückgewiesen, so Gabriel.


Differenzen bei der Haushaltspolitik

Differenzen zwischen Merkel und Gabriel gab es auch bei der Haushaltspolitik: Als Reaktion auf die von Finanzminister Wolfgang Schäuble angekündigten Milliardenüberschüsse des deutschen Haushalts lobte die Bundeskanzlerin die Haushaltspolitik der großen Koalition: „Es ist eine Riesenleistung, dass es gelungen ist, einen ausgeglichenen Haushalt ohne Steuererhöhungen erreicht zu haben“, so Merkel. Allerdings gelte das Ergebnis von Schäuble nur für die ersten sechs Monate des Jahres. „Abgerechnet wird erst am Ende des Jahres“, so Merkel. Dann konnte sie sich doch einen kleinen Vorgeschmack auf den Wahlkampf nicht verkneifen: Für die nächste Legislaturperiode kündigte die Kanzlerin Steuersenkungen an.

Vizekanzler Gabriel sprang darauf direkt an. „Meine Sorge bei der Union ist, dass sie die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands verspielt“, so Gabriel. Er lehnte Steuersenkungen ab und fordere stattdessen die Sozialabgaben zu senken und den Spitzensteuersatz anzuheben. „Viele Leute haben den Eindruck, sie seien gar nicht reich und müssen trotzdem den Spitzensteuersatz zahlen“, so Gabriel.

Angesprochen auf die parteiinterne Kritik an seinem Werben für Ceta, das Freihandelsabkommen mit Kanada, blieb der Wirtschaftsminister demonstrativ gelassen: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD gegen CETA stimmt, die deutsche Sozialdemokratie Europa anhält und sagt, wir wollen lieber bei den ganz schlechten Handelsabkommen bleiben, die wir heute haben“. Ganz anders sehe es beim umstrittenen Abkommen mit den USA aus. TTIP sei „de facto gescheitert“. Die EU werde sich mit Washington nicht einig. Mit Blick auf die vielen TTIP-Gegner in Deutschland gab sich Gabriel dann auch kämpferisch: „Wir dürfen uns aber den amerikanischen Vorschlägen nicht unterwerfen.“

Doch für den Vize-Kanzler sind die Wirtschaftsabkommen nur Nebenschauplätze. Viel stärker ringt er mit dem Bedeutungseinbußen seiner Partei. Zwar legte die SPD in Wählerumfragen in letzter Zeit etwas zu, trotzdem steht die Partei im Vergleich zum Jahr 2013 deutlich schlechter da. Der Druck für den SPD-Parteikonvent Mitte September wird immer größer. Am Tag nach der Senatswahl in Berlin muss Parteichef Gabriel überzeugende Impulse für das Wahljahr liefern.

Angesichts der Lage der SPD sind die leichten Verluste bei der Zustimmung für Regierungschefin sind für die CDU fast Luxusprobleme. Noch 42 Prozent der Deutschen wollen, dass Angela Merkel erneut Bundeskanzlerin wird, lautet das Ergebnis einer Emnid-Umfrage im Auftrag der „Bild am Sonntag” – drei Prozent weniger als im November 2015. Merkel sieht sich auf dem richtigen Kurs.

Sigmar Gabriel hingegen versuchte die Verantwortung für die schlechten Umfragewerte von seiner Person fernzuhalten. „Das hat, glaube ich, ganz viel mit der Irritation über die massenhafte Zuwanderung von Flüchtlingen zu tun“, so der Parteivorsitzende. Bei sich selbst sehe er keine Schuld. Auch die umstrittene Mittelfinger-Geste – in Salzgitter hatte er pöbelnden Demonstranten den Mittelfinger gezeigt – sei kein Fehler gewesen. „Den einzigen Fehler, den ich gemacht habe: Ich habe nicht beide Hände benutzt“, so Gabriel.

Während der SPD-Chef also langsam in den Wahlkampfmodus schaltet und neben seinen Erfolgen immer auch die Misserfolge der Kanzlerin betont, bleibt diese zahm. Merkel bleibt bei sich, wiederholt ein ums andere Mal den Satz: „Wir haben viel erreicht”. Den Ordner mit den Attacken auf den Noch-Partner und baldigen Kontrahenten hält die Kanzlerin noch verschlossen. Vielleicht hat sie nach zwölf Jahren auch endgültig genug von dem Spiel und gibt diese Aufgabe im nächsten Jahr weiter. Der Wahlkampf jedenfalls muss noch warten.

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