Gastkommentar Das Produktivitäts-Paradoxon

Roboter und selbstfahrende Autos – Digitalisierung verändert die Wirtschaft dramatisch. Das schlägt sich aber nicht in der Produktivität und Investitionsquote nieder. Warum das kein Grund für Sorge ist. Ein Gastbeitrag.

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Zwei als Roboter verkleidete Menschen auf einer Messe: Die Digitalisierung verändert die Produktion. Das Schlagwort ist „Industrie 4.0“. Quelle: dpa

München Die Wirtschaft verändert sich durch die Digitalisierung dramatisch: Ob die Verbreitung von sich selbst steuernden Robotern in der industriellen Produktion, die Vernetzung von Produktionsvorgängen im „Internet of Things“ oder der Einsatz autonomer Fahrzeuge – diese Entwicklungen haben das Potenzial, Wirtschaft und Gesellschaft gewaltig zu beeinflussen.

Aber: All diese Veränderungen durch Innovationen sind in wichtigen volkswirtschaftlichen Kennziffern nicht sichtbar. Zumindest noch nicht, eher im Gegenteil. Die Arbeitsproduktivität, gemessen als das Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde, wächst in den Industriestaaten zunehmend langsamer. Dieser Trend hält schon lange an, aber seit der Finanzkrise hat sich das Nachlassen der Produktivitätsdynamik nochmals verstärkt. In den USA ist die Produktivität im ersten Halbjahr 2016 sogar geschrumpft.

Es gibt viele plausible Gründe für dieses „Produktivitäts-Paradoxon“ – von offensichtlichen konzeptionellen Messfehlern beim BIP bis zu den Folgen des sektoralen Wandels, weil neue, aber weniger produktive Jobs vor allem im Dienstleistungsbereich entstehen. Aber die Sorgen vor anhaltend schwachem Wirtschaftswachstum und seinen Folgen für Politik, Gesellschaft und Finanzmärkte nehmen zu. Zumal es auch Erklärungsansätze wie die unter Volkswirten viel diskutierte These der „säkularen Stagnation“ gibt.

Ein Indiz in diesem Zusammenhang sind die seit der Finanzkrise in den Industrieländern anhaltend niedrigen Investitionsquoten. Lag das Verhältnis von Investitionen und BIP in den Jahren 1999-2008 noch bei durchschnittlich 23 Prozent, so betrug es seit 2010 nur noch knapp 21 Prozent.

Sollte sich die These einer „säkularen Stagnation“ als zutreffend erweisen und wir tatsächlich vor einer längeren Phase schwachen Wirtschaftswachstums stehen, dann wären auch die Aussichten für die Zinsen – sowohl der Leitzinsen als auch der langfristigen Anleiherenditen – eher düster. Diese Meinung vertreten einige Ökonomen und Notenbanker, so wie jüngst das Fed-Mitglied Jerome Powell. Aber wie bedeutend sind solche Szenarien überhaupt?


„Langfristig entwickeln sich neue Wirtschaftszweige“

Ich bin überzeugt, dass wir uns zu viel Sorgen machen und die aktuelle Produktivitätsschwäche überbewerten. Denn auch in früheren Zeiten großer wirtschaftlicher Umbrüche waren die positiven Auswirkungen dieser „industriellen Revolutionen“ nicht unmittelbar sichtbar.

Oft standen zunächst meist negative Effekte und daraus resultierende Sorgen vor den gesellschaftlichen Folgen im Vordergrund – etwa der Niedergang ganzer Wirtschaftszweige, die nach der Erfindung der Dampfmaschine nicht mehr rentabel waren. Langfristig jedoch entwickelten sich neue Wirtschaftszweige, in denen zahlreiche Arbeitsplätze entstanden. Und diese beschleunigten in der Summe dann auch Produktivitätsdynamik und das Wachstum.

Für die heutige Situation bedeutet das: Bis sich die derzeit zu beobachtende digitale Revolution in ihrer Breite in Produktionsprozessen und Arbeitsabläufen flächendeckend niederschlägt, dürfte noch einiges an Zeit vergehen. Sogar die Computerisierung ab den 1980er Jahren führte erst mit einiger Verzögerung zu spürbaren Produktivitätszuwächsen. Der Nobelpreisträger Robert Solow sagte dazu 1987: „You can see the computer age everywhere but in the productivity statistics.“ So lag die durchschnittliche Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in den USA zwischen 1986 und 1995 bei gerade 1,3 Proeznt pro Jahr – in den folgenden 10 Jahren stieg sie dann aber auf 2,5 Prozent.

Kurzfristig hilft dieser Ausblick zunächst in der Tat nicht weiter. Hier müssen wir weiterhin darauf bauen, dass sich trotz aller Risiken im weltwirtschaftlichen Umfeld die allmähliche konjunkturelle Erholung fortsetzt. Ich erwarte, dass das globale Wachstum spätestens im kommenden Jahr etwas an Fahrt gewinnt. Dann dürfte auch der Boden für einen verhaltenen Anstieg von Inflation und in der Folge auch der Zinsen bereitet sein.

Und wenn sich dann die positiven Auswirkungen der digitalen Revolution auch in den volkswirtschaftlichen Zahlen zeigen – fünf bis zehn Jahre sind hier eine realistische Perspektive – dürfte diese zusätzliche Verbesserung des Wachstumsumfelds einen spürbaren Impuls für eine „Normalisierung“ des Zinsniveaus setzen. Wir sollten uns also nicht verleiten lassen zu glauben, das derzeitige makroökonomische Umfeld und die historisch niedrigen Zinsen seien unumkehrbar.

Michael Menhart ist Chefvolkswirt von Munich Re.

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