Gastkommentar zur Einwanderung Die Stimmung kippt

Wer nicht hören will, muss fühlen! Das gilt auch für die Union und ihre Flüchtlingspolitik. Wenn die CDU nicht eine Kehrtwende bei der Einwanderungspolitik schafft, werden andere Parteien davon profitieren.

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Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt warnt vor möglichen Auswirkungen der Flüchtlingsdebatte auf Kanzlerin Merkel und die Union. Quelle: dpa

Für die CDU und ihre Vorsitzende bewahrheitet sich derzeit ein stets richtiges Sprichwort: Wer nicht hören will, muss fühlen! Beflissen um den Schulterschluss mit SPD und „progressiver Öffentlichkeit“ bemüht, wollte die Union nicht hören, dass ein Großteil der Deutschen zwar politisch Verfolgten helfen will, es aber nicht mag, dass es – den Asylartikel nutzend – zur selbstermächtigten und vom Staat passiv hingenommenen Einwanderung nach Deutschland kommt.

Als Dresdens Pegida-Demonstranten im vergangenen Spätherbst dieses Thema unüberhörbar aufbrachten, verlachte man sie, weil sie sich über ein rein eingebildetes Problem Sorgen machten. Obendrein unterstellte die Kanzlerin ihnen allesamt Vorurteile, Kälte und Hass im Herzen.

Inzwischen ist aber unübersehbar geworden, dass wir Probleme mit der bislang nicht enden wollenden Einwanderung nach Deutschland haben und es keine leichte Aufgabe sein wird, Hunderttausende von Zuwanderern mit Wohnungen, Arbeitsplätzen, Gesundheitsfürsorge und sozialer Sicherung zu versorgen. Obendrein haben wir diese Zuwanderer auch gar nicht gerufen, ja nicht einmal eine redliche Diskussion zwischen Eliten und Bevölkerung darüber geführt, Einwanderung welcher Art und welchen Umfangs wir wirklich wollen beziehungsweise wollen sollten.

Und seit nicht nur sehr viele Bürgermeister und Landräte, Innenminister und Regierungschefs sich öffentlich Sorgen um die Bewältigbarkeit dieser von uns mutwillig gesuchten Herausforderung machen, sondern ebenfalls der Bundespräsident von Grenzen der Aufnahmefähigkeit unseres Landes spricht, ist der Versuch klar gescheitert, das Einwanderungsgeschehen gleichsam auszusitzen und besorgte Bürger einfach als dumme Rassisten  auszugrenzen.

Ganz wesentlich hat die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende dieses Problem verschärft, indem sie der Versuchung nachgab, sich klar „auf die Seite der Guten“ zu stellen. Das setzte eine nachgerade unwiderstehliche Anziehungskraft Deutschlands frei. Zwar waren jene Tage nach Merkels Bruch mit dem Dublin-Abkommen, als viele Deutsche die Ankunft von Einwanderern an unseren Bahnhöfen freudig bejubelten, für das Selbstgefühl und Selbstbild unseres Landes auch sehr schöne Tage.

Doch die Überforderung unserer Hilfsorganisationen und zumal der Tausende von freiwilligen Helfern wird ebenso zur Erosion jener im Grunde schönen Willkommenskultur und zum Kippen der Stimmung im Land beitragen, wie das die jetzt schon einsetzenden Demonstrationen von Einwanderern gegen jene Lebensbedingungen tun werden, in die sie wider ganz andere Hoffnungen einfach deshalb geraten sind, weil unsere Land viel größere Versprechungen gemacht hat, als es einhalten kann.

Nennenswerte Teile der CDU und die allermeisten Politiker und Parteien links der CDU wollen bislang aber keine wirkliche Abkehr von jener Einwanderungspolitik, die uns in diese Probleme geführt hat. Sie machen allenfalls pragmatische Zugeständnisse unter dem Druck ihrer Kommunal- und Landespolitiker. Hingegen wünschte sich ein Großteil der einfachen, von den absehbaren sozialen Verteilungskonflikten besonders stark betroffenen Leute in unserem Land einen Politikwechsel.


Welche Parteien sich für einen Politikwechsel aussprechen

Für einen solchen Politikwechsel sprechen sich bislang aber nur Parteien rechts von der CDU klar aus. Deshalb fängt ein Großteil der Bevölkerung nun an, seine Hoffnungen auf rechte Parteien zu setzen – weniger, weil man ihnen wirklich vertraut, sondern vor allem, weil man darauf hofft, gute Umfragewerte oder gar Wählerstimmen für sie würden zunächst einmal die Union, doch später auch Teile der SPD oder sogar der Grünen zum Umdenken bringen.

Unterm Strich zeigt sich: Die Stimmung in der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte ist am Kippen, denn in der lange schon zu beobachtenden Spaltung zwischen Elitendiskurs und Bevölkerungsmeinung setzt sich gerade die letztere durch. So entspricht es auch dem Leitgedanken von Demokratie, deren Schwert die unkontrollierbare Abstimmung in der Wahlkabine ist. Falls die CDU es nicht schafft, beim Einwanderungsthema eine ebenso wirkungsvolle Kehrtwende hinzubekommen wie einst beim Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie, wird sie die Hauptleidtragende jener Empörung sein, die sich bei den anstehenden Wahlen entladen dürfte.

Profitieren würde davon die AfD, wenn sie einesteils den Bevölkerungswunsch aufgreift, unsere Einwanderungspolitik zu einer wirklich nachhaltigen, auf Begrenzung und Integration setzenden umzugestalten, und wenn sie sich andernteils von rassistischen und nationalistischen Positionen fernhält, wie sie die NPD vertritt.

Nicht profitieren werden SPD und Grüne, weil sie der von der Bevölkerungsmehrheit gewünschten Umorientierung unserer Einwanderungs- und Integrationspolitik ganz offensichtlich noch mehr widerstreben als ein Großteil der CDU. Profitieren kann allerdings die Linkspartei, die sich bei den jetzt schon sichtbaren, doch eher aufgezwungenen als wirklich gewollten Positionsveränderungen von SPD und Grünen als Sachwalterin der „eigentlich richtigen“ Politik darstellen kann.

Immer weniger werden im Übrigen die bislang für politisch plausibel gehaltenen Versuche verfangen, ob des Einwanderungsgeschehens und des ihm folgenden kulturellen Wandels unserer Gesellschaft besorgte Bürger als Rassisten oder Latenz-Nazis auszugrenzen. Allzu viele von solcher Etikettierung betroffene Deutsche wissen nämlich, dass sie das alles wirklich nicht sind, und sie werden sich für entsprechende Verunglimpfungen revanchieren: entweder in der Wahlkabine – oder durch protestierende Wahlenthaltung.

Mit beidem ist unserer Demokratie nicht gedient. Also haben wir ganz offensichtlich beim Umgang mit der Einwanderung nach Deutschland und mit den auf sie bezogenen Bürgerwünschen politisch nicht genug gekonnt. Und das gilt auch für die bislang wie ein politisches Genie wirkende Bundeskanzlerin.

Prof. Dr. Werner J. Patzelt ist Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft an der TU Dresden und hat den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich seit 1991 inne.

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