WirtschaftsWoche Online: Herr Burchardt, wenn Sie kommende Woche Bildungsminister in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz oder Sachsen-Anhalt werden würden, wie würden Sie das dortige Bildungssystem fit machen?
Matthias Burchardt: Der Flurschaden der Blitzreform in Baden-Württemberg muss dringend beseitigt werden, damit nicht eine ganze Generation von Kindern als Versuchskaninchen die Folgen der Reform ausbaden müssen. Die bisherige Landesregierung rudert ja schon kräftig zurück.
Was würden Sie also konkret tun?
Die Schulen brauchen nun vor allem eines: Ruhe! Schule lebt vom Unterricht durch gute Lehrer und braucht eine gewisse Leistungsdifferenzierung. Ich würde deshalb die Gemeinschaftsschulen in diesem Sinne weiterentwickeln, G8, die Neue Lernkultur und die Kompetenzorientierung aber landesweit abschaffen.
Zur Person
Dr. Matthias Burchardt ist Pädagoge an der Universität zu Köln und Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V..
Was haben Sie denn an der Neuen Lernkultur auszusetzen?
Im Kern beruht die Neue Lernkultur darauf, dass wesentliche pädagogische Funktionen und Verantwortungsbereiche des Lehrers den Schülern aufgebürdet werden. Diese sollen eben nicht nur lernen, sondern müssen das eigene Lernen auch noch organisieren.
Also das Konzept „Der Lehrer als Lernbegleiter, der Schüler als Lernpartner“...
Der Idealtypus der Neuen Lernkultur ist der Autodidakt, man könnte aber auch von „Kaspar-Hauser-Pädagogik“ sprechen.
Was Schüler in der neunten Klasse können sollen
Es ging um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) – und zwar über alle Schulformen hinweg. In Mathematik wurden sechs Kompetenzformen aus dem gesamten Spektrum mathematischen Arbeitens untersucht, wie „Probleme mathematisch lösen“ aber auch „Raum und Form“ sowie „Daten und Zufall“. In den Naturwissenschaften ging es vor allem um Grundbildung, aber auch um fachübergreifendes Problemlösen.
Die Aufgaben wurden auf der Grundlage der von den Kultusministern für alle Bundesländern verbindlich eingeführten Bildungsstandards für diese Fächer entwickelt – unter Mitwirkung von Schulpraktikern. Bildungsstandards beschreiben, was ein Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe können soll. Sie gelten für Lehrer als pädagogische Zielvorgabe und haben damit die zuvor in allen Bundesländern unterschiedlichen Lehrpläne abgelöst.
Die Untersuchung fand vormittags in der Schule statt und dauerte jeweils etwa dreieinhalb Zeitstunden (inklusive Pausen). Hinzu kamen anschließend Interviews mit Schülern, Fachlehrern und Schulleiter über die Lernbedingungen.
Der „Klassiker“ ist die weltweite PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Des weiteren gibt es noch die internationale IGLU-Grundschulstudie und die internationale TIMSS-Untersuchung mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften – sowohl für die Grundschule als auch für die achten Klassen. Allerdings haben die Kultusminister bei PISA und IGLU die zuvor üblichen Bundesländervergleiche gestoppt. Deutschland macht zwar bei den internationalen Studien weiter mit, aber nur noch mit einer kleineren nationalen Stichprobe – etwa 5000. Dies ermöglicht kein Bundesländer-Ranking.
Darüber lässt sich nur spekulieren: Die Kultusminister können die politisch brisanten Bundesländervergleiche auf der Basis ihrer eigenen vereinbarten Bildungsstandards sicherlich besser steuern. Auch das IQB arbeitet im Auftrag der Kultusministerkonferenz. Zuvor war es vor allem mit den internationalen PISA-Forschern der OECD wegen der ungünstigen deutschen Chancengleichheitswerte und der Schulstrukturfrage immer wieder zu Konflikten bei der Interpretation von Daten gekommen.
Überraschend ist, dass neben allen ostdeutschen Ländern diesmal aus dem Westen nur Bayern und Rheinland-Pfalz durchgängig gut abschneiden. Mathematik und Naturwissenschaften waren eine Domäne der DDR-Schulen. Auf die Fachlehrerausbildung legte man hier besonderen Wert. Auch spielen die Naturwissenschaften auf den Stundentafeln der ostdeutschen Schulen heute noch eine größere Rolle als im Westen.
Die Studie belegt erneut die erschreckend hohe Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland. Neuntklässler aus der Oberschicht haben gegenüber Gleichaltrigen aus bildungsfernen Schichten einen Lernvorsprung in Mathematik von fast drei Schuljahren.
Bildungsexperten raten seit Jahren, nicht ganze Bundesländer miteinander zu vergleichen, sondern besser Regionen mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen und Problemlagen. Also etwa Berlin mit dem Ruhrgebiet, wegen der hohen Ausländerquoten unter den Schülern, oder ländliche Gebiete im Osten Deutschlands mit denen im Westen, wegen Abwanderung und Bevölkerungsrückgang.
Klingt sehr anspruchsvoll...
Ja, es kommt in jeder Hinsicht zu einer Überforderung der Kinder. Aber auch die Lehrer sind nicht etwa entlastet, sondern werkeln an „Lernpaketen“ herum, bereiten Material für verschiedene Niveaustufen vor, kommen mit den Korrekturen oder der Leistungsbewertung kaum hinterher. Erschreckend war für mich, dass bei der Bewertung vornehmlich darauf geschaut wurde, ob die Schüler ihr Pensum geschafft haben, inhaltliche Fehler wurden dagegen kaum korrigiert.
"Kinder des Kultusministers gehen auf eine Privatschule"
Immerhin will auch die grün-rote Landesregierung die Einführung einer Gemeinschaftsschule. Wird dann nicht alles besser? Das Konzept verspricht, durch Integration und Inklusion aller Schüler, gesellschaftliche Grenzen zu überbrücken und Chancengleichheit zu schaffen...
Dieser Köder wurde ausgelegt, um die Akzeptanz für den Umbau des Schulsystems zu erhöhen. Das Gegenteil ist leider der Fall. Gerade die benachteiligten Schüler haben am wenigsten von der Neuen Lernkultur profitiert. Zwar hat man nun alle unter einem Dach versammelt, aber die soziale Selektion wird im Verborgenen fortgesetzt.
Inwiefern?
Mehr denn je entscheidet hier das ökonomische und kulturelle Kapital des Elternhauses über den Erfolg. Wer nicht aus einem entsprechenden Elternhaus kommt, hat es schwer im selbstorganisierten Lernen. Selbstständiges Lernen führt eben nicht zwangsläufig zum Lernen der Selbständigkeit.
Eine radikale schulische Inklusion führt bei einigen Kindern möglicherweise dazu, dass sie als Erwachsene weniger selbstbestimmt leben, als wenn an einer Förderschule unterstützt worden wären. Es ist ein typisches Kennzeichen von Ideologien, die Wirklichkeit zugunsten von Verheißungen auszublenden, als ob schon das hehre Ziel davon entlasten würde, nach geeigneten Mitteln zu seiner Verwirklichung zu suchen.
Viele Politiker, die soziale Bildungsexperimente im großen Stil planen, wurden dabei „erwischt“, dass sie ihre eigenen Kinder ganz konservativ in Privatschulen oder herkömmlichen Gymnasien anmelden...
Ja, ein wunderbarer Prüfstein, ob die Prediger an die eigene Lehre glauben. Die Kinder des Stuttgarter Kultusministers Andreas Stoch gehen auf eine private Waldorf-Schule. Meistens redet man sich dann damit heraus, dass die Frau es so wollte. Sicher sollte man fair bleiben, möglicherweise wurde diese Entscheidung getroffen, lange bevor das Amt gerufen hat. Aber ein Geschmäckle hat das Ganze schon, wenn man selbst Wein trinkt und Wasser predigt. Die Konsequenz sollte aber nicht sein, dass die Ministerkinder auf die GMS geschickt werden, sondern das die Politik das öffentliche Schulwesen so stärkt, das es mit den Privatschulen mithalten kann.
Laut Stoch soll neben der Gemeinschaftsschule immerhin auch das Gymnasium und die entsprechende Lehrausbildung erhalten bleiben...
Eines sollte klar sein: Allein das Schild am Schultor gewährleistet nicht, dass im inneren auch gymnasiale Ansprüche aufrechterhalten werden. Es gab beispielsweise einen Arbeitskreis Gymnasium 2020, der in einem internen Papier eine Aushöhlung des Gymnasiums vorbereitet hat. Mein Eindruck ist, dass man auch hier über die Ideologisierung des Lernens und vermeintliche „Harmonisierungen“ in Richtung Gemeinschaftsschule bewährte Konzepte abwickeln will. Ich kann mir gut vorstellen, dass es bei einer Fortsetzung der Koalition zu weiteren verdeckten Angriffen auf das Gymnasium kommen wird.