Was Sie sagen, unterstreicht einen allgemeinen Eindruck: Der Wille zu Reformen ist nicht vorhanden.
Das hat mit unserer gesellschaftlichen wie ökonomischen Lage zu tun, die viele Herausforderungen verschleiert. Solange kein Druck da ist, will keiner seine Situation verändern. Das ist verständlich, aber das Gegenteil von Vorsorge und Nachhaltigkeit.
Sie waren schon früher nie wirklich einer Meinung mit Andrea Nahles. Nun bekommt man den Eindruck, dass die neue Sozialministerin sich durch Ihre kritischen Worte zur Rentenreform erst recht bestätigt sieht.
Das ist wohl so, dennoch ist es nicht ganz fair, die Kritik Andrea Nahles allein vor die Füße zu kippen. Es handelt sich um das Programm der großen Koalition. Sie war also nicht nur befugt, sondern geradezu vertraglich verpflichtet, das Falsche zu tun. Auch die Regierungschefin darf man da nicht außen vor lassen.
Sie haben immerhin noch den Eindruck, dass die Kanzlerin an Bord ist.
(lacht) Das lasse ich mal unbeantwortet.
Angela Merkel wird stets ihre Visionslosigkeit, ihr mangelnder Wille zu Reformen vorgeworfen. Finden Sie das gerechtfertigt?
Wenn man mal Revue passieren lässt, was sie auf dem Leipziger CDU-Parteitag 2003 so alles an angeblich zwingend notwendigen Reformen formuliert hat… Die Agenda 2010 war jedenfalls in ihren Augen nutzlos. Bestenfalls.
Wichtige Stationen von Gerhard Schröder
Gerhard Fritz Kurt Schröder kam am 7. April 1944 im damaligen Lippe zur Welt. Er studierte Jura in Göttingen und ist seit seinem Examen 1974 Volljurist. 1963 wurde Schröder Mitglied der SPD. Von 1978 bis 1980 war er Bundesvorsitzender der Jungsozialisten (Jusos). Ein Gerücht besagt, dass er in dieser Zeit einmal am Tor des Bonner Bundeskanzleramts mit dem Ruf gerüttelt haben soll: „Ich will da rein!“ Bei der Bundestagswahl 1980 erhielt Schröder erstmals ein Bundestagsmandat, 1998 zum Bundeskanzler. Während seiner zweiten Amtszeit stellte Schröder am 1. Juli 2005 die Vertrauensfrage und scheiterte. Seither ist er als Rechtsanwalt und Lobbyist tätig, sowie Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG.
Ende März 1999 musste sich Schröder, der damals erst wenige Monate im Amt war, eine der schwerwiegendsten Entscheidungen seiner Amtszeit vor dem Bundestag erklären: Die Beteiligung deutscher Bundeswehrsoldaten am Kosovo-Krieg. Es war der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg. 14 deutsche Tornados wurden für die Luftaufklärung eingesetzt und bekämpften serbische Flugabwehrstellungen um Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zu unterbieten. Der Kosovo-Krieg galt als erste Bewährungsprobe für die frische rot-grüne Regierung unter Schröder. Vor allem in den Reihen der Grünen war der Kampfeinsatz stark umstritten.
Keine politische Entscheidung ist so eng mit dem Namen Gerhard Schröders verknüpft wie die Agenda 2010. In seiner zweiten Amtszeit setzte Schröder das in der Öffentlichkeit und weiten Teilen seiner Partei heftig umstrittene Reformprogramm durch. Dazu gehörte vor allem der unter dem Namen Hartz I bis Hartz IV bekannte Umbau der Sozialsysteme für Arbeitslose und Bedürftige. Um sich die Rückendeckung seiner eigenen Partei zu sichern und das Programm trotz Gegenstimmen auf den Weg zu bringen, drohte Schröder mehrfach mit Rücktritt. Am 14. März 2003 konnte Schröder die Agenda 2010 durchsetzen, die seither als wichtigstes und größtes Projekt seiner Kanzlerschaft gilt.
Im Jahr 2000 erzielten die Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen einen sogenannten Energiekonsens. Auf Grundlage des Konsens sollte die Kernkraft-Nutzung in Deutschland geordnet beendet werden. Bis 2020, so glaubte man damals, sollte das Ende der Atomkraftnutzung in Deutschland erreicht werden. Schröders Gesetz zum Ausstieg aus der Atomenergie trat am 27. April 2002 in Kraft.
Als einer der großen Erfolge Schröders gilt die Einführung der Homo-Ehe. Seit dem 1. August 2001 können in Deutschland gleichgeschlechtliche Paare ihre Partnerschaft behördlich anerkennen lassen. Das neue Lebenspartnerschaftsgesetz der rot-grünen Koalition unter Schröder regelte die Bereiche Güterstand, Nachzugsrecht und Erbrecht von Grund auf neu. Trotz zahlreicher Versuche der Bundesländer Bayern, Sachsen und Thüringen, das Gesetz durch eine Normenkontrollklage zu stoppen, wurde es vom Bundesverfassungsgericht als rechtmäßig bestätigt.
2003 geriet Gerhard Schröder für seine Außenpolitik in Kreuzfeuer. Für seine Ankündigung, es werde im Weltsicherheitsrat keine Zustimmung Deutschlands zu einem Irak-Krieg geben, erntete er außenpolitisch massiv Kritik. Schröder belastet mit der Entscheidung das deutsch-amerikanische Verhältnis. Innenpolitisch bekam er für seine Entscheidung jedoch Rückendeckung, auch von Seiten der Bevölkerung.
Seit seinem Ausstieg aus der Politik hat Schröder als Vorsitzender des Nord-Stream-Aktionärsausschusses eine führende Position in dem Konsortium inne, das eine Ostsee-Pipeline von Russland nach Deutschland baut. An dem Betreiberkonsortium hält Gazprom die Mehrheit der Anteile, gut 51 Prozent. Für die Übernahme der Position wurde Schröder heftig kritisiert.
Wir spüren Ihre stille Genugtuung.
Genugtuung ist keine politische Kategorie. Verglichen mit der Merkel von früher, ist ihre Politik heute in der Tat nicht gerade visionär. Ich würde, was die Beziehung von Visionen und Politik angeht, nicht so weit gehen, wie mein Vorvorgänger Helmut Schmidt, aber Politik geht eben auch ohne große Visionen.
Jetzt werden Sie milde.
Keine Sorge, mein Kritikpunkt ist nur ein anderer: Hat man als Kanzler den Mut, Maßnahmen Wirklichkeit werden zu lassen, die noch nicht Mainstream sind? Politische Führung heißt ja nicht, verlieren zu wollen. Das kann man von keinem Regierenden verlangen. Sie bedeutet aber, für ein wichtiges Anliegen das Risiko einzugehen, nicht wieder gewählt zu werden. An dieser Bereitschaft zum Risiko mangelt es Frau Merkel.
Da ist Merkel vielleicht nur eine kluge Schülerin Schröders: Wer einschneidende Reformen wagt, kann sich sein Lob aus den Geschichtsbüchern holen.
Wenn etwas notwendig ist – und zwar im schönsten Sinne des Wortes, weil eine Not zu wenden ist –, dann muss man als Politiker ins Risiko gehen. Punkt.
Ein Sozialdemokrat allerdings geht ins Risiko: Sigmar Gabriel will die verkorkste Energiewende auf Kurs bringen.
Gabriel setzt im Jahreswirtschaftsbericht schon mal die richtigen Akzente. Deutschland ist besser als andere durch die Krise gekommen, nicht nur wegen der Agenda 2010, sondern vor allem wegen unserer starken Industriestruktur, die man erhalten muss – trotz der Energiewende. Jetzt muss man schauen, wie die vagen Ankündigungen des Koalitionsvertrages umgesetzt werden.
Sie haben ihn tatsächlich gelesen?
Ich habe nicht viele Koalitionsverträge gelesen, aber diesen schon. Er enthält in vielen Bereichen sehr vage Absichtserklärungen. Es kommt also auf die konkrete Umsetzung an.