Gerhard Schröder Wie bei den Stachelschweinen

Ein Lob auf Frankreich, Hoffnung auf die Weltwährung Euro und eine pikante Enthüllung in eigener Sache: ein kanzlerreifer Abend in München mit dem Erfinder der „Agenda 2010“, Gerhard Schröder.

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Deutschland müsse zusammen mit Frankreich die Führung in Europa übernehmen: Altkanzler Gerhard Schröder sprach am Dienstagabend in München in der IHK-Akademie 600 Gästen. Quelle: AP

Ein ketzerischer Gedanke, nur mal so zwischendurch: Was wäre, wenn die staatsmännische Stimmungskanone da oben am Rednerpult, neben dem Blumengesteck und der Digitaluhranzeige, im Bundestagswahlkampf für die SPD anträte? Wenn er Kanzlerkandidat würde anstelle des seltsam ermatteten Martin Schulz, der Reden vor Unternehmern wie am Montag in Berlin vom Blatt abliest?

Der Genosse aber, der an diesem Dienstagabend in München in der IHK-Akademie vor der versammelten höheren Regionalwirtschaft auftritt, redet frei und Klartext. Altkanzler Gerhard Schröder - der schon sieben Jahre lang jenes Amt ausübte, das Schulz will - zieht mit Gedanken zum „Europa-Tag“ einen Saal auf seine Seite, dessen 600 Nutzer überwiegend CSU wählen dürften.

Das liegt auch daran, dass der altgediente Sozialdemokrat allerlei Bildhaftes in seine politischen Bekenntnisse würzt - zum Beispiel, dass Deutschland zusammen mit Frankreich die Führung in Europa übernehmen müsste, und zwar „so wie Stachelschweine sich lieben“.

Wichtige Stationen von Gerhard Schröder

Mit Geduld und Vorsicht, das ist hier mit den „Stachelschweinen“ gemeint, aber auch mit mehr Mut. Deutschland sollte die ausgestreckte Hand Frankreichs jetzt nicht abweisen, kommentiert Schröder den Wahlerfolg des leidenschaftlichen Europafreundes Emmanuel Macron.

Ja, es müsse mehr in Europa investiert werden, vor allem im südlichen Teil mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit, und die Koordination der Geldpolitik müsse in der Euro-Zone zudem endlich durch eine Koordination von Wirtschafts-, Finanz- und auch Sozialpolitik flankiert werden. Der Euro müsse künftig neben dem Dollar und dem Yuan die „dritte Weltwährung“ werden, fordert Schröder.

Auch sei die Außen- und Sicherheitspolitik stärker gemeinsam zu betreiben, und zwar ohne militärische Aufrüstung. Die von den Amerikanern eingeforderte Regel, wonach zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ins Militär gehen sollen, sei ja „nie beschlossen worden“. Und schließlich habe der Schutz der europäischen Außengrenzen Priorität. „Es gibt neue Chancen für ein reformiertes Frankreich, für Europa und erst recht für uns Deutsche“, schrödert es mit Pathos, es gebe jetzt „ein historisches Zeitfenster“.

Gut gelaunt, lachend, mit leichter Röte im Gesicht

Frankreich sei „unser Gegengewicht, das Deutschlands Stärke austariert“. Der einstige Regierungschef erwartet, dass Frankreich und Deutschland nach ihren Parlamentswahlen im Juni beziehungsweise im September gemeinsam europäische Reformvorschläge vorlegen, gerade vor dem Hintergrund des „America-First-Gebarens“.

Schröders Analyse: Eine stärkere Integration Europas, eine neue „europäische Souveränität“, sei nötig zwischen den Kraftzentren USA und China, selbst Deutschland, Großbritannien und Frankreich seien dagegen „Zwerge“. „Das Wohl Europas ist auch das Wohl Deutschlands“, ruft Schröder noch in den Saal. Immerhin gingen 40 Prozent der Exporte in die EU. Deutschland müsse in Europa zahlen, damit der Euro bleibt. „Wir sind der Nutznießer des Euro“, sagt der Politiker.

Das alles klingt irgendwie präsidial, tatsächlich fast kanzleresk. Gut gelaunt, lachend, mit leichter Röte im Gesicht, ein bisschen verwittert, präsentiert sich der Star des Abends. Wenn man so will, wirkt hier ein Zirkuspferd, das alle Tricks kennt und ins Laufen kommt, wenn der Aufmerksamkeitspegel bei den anderen nur hoch genug steigt.

So kommt die Weltpolitik für ein paar Minuten in die Münchner Orleansstraße, fünf Minuten vom Ostbahnhof entfernt.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989, nach dem Ende der Bipolarität zwischen den USA und der alten Sowjetunion, ist nach Schröders Auffassung die Sicherheitsarchitektur nicht angepasst worden. Europa müsse nun verhindern, dass sich Russland und die Türkei gen China orientieren. Eine EU-Mitgliedschaft der Türkei wiederum sei unmöglich, wenn das Land die Todesstrafe einführe, aber Deutschland kooperiere ja auch mit den USA und China, die ebenfalls die Todesstrafe exekutieren.

Mit Russland schwebt dem bekennenden Freund des Staatspräsidenten Wladimir Putin mittelfristig ein Assoziierungsabkommen vor. Dass Putin jüngst Marine Le Pen empfing, sei ein schwerer Fehler gewesen. Dennoch dürfe man nicht auf mehr Konfrontation setzen, sondern auf Dialog.

„Sie ahnen gar nicht, wie recht Sie haben.“



Entspannt zeigt sich der Mann aus Hannover beim Thema Donald Trump, den er an diesem Abend nur den „gegenwärtigen Präsidenten“ nennt. Er hoffe auf Institutionen und Berater, die ihn einhegen, so Schröder. Auch über Ronald Reagan habe sich einst jeder mokiert („dieser Schauspieler!“), am Ende jedoch sei aus ihm ein in der Außenpolitik erfolgreicher US-Präsident geworden.

Im Übrigen lästert der Ex-Kanzler über Reisebeschränkungen und steuert eine persönliche Anekdote bei. So habe er für einen geplanten Vortrag in New York ein Visum gebraucht, doch dafür hätte er im US-Konsulat Auskunft über den Inhalt seiner Rede und die Bezahlung geben müsse.

Grund: Schröder war als Ehrenvorsitzender des Nah- und Mittelost-Vereins mehrmals im Iran gewesen. Der Sozialdemokrat mied also den anberaumten Termin und verzichtete auf New York, wo die Redneragentur „Harry Walker“ sitzt, die ihn gegen stattliches Honorar vermittelt. Das alles sei aber nicht durch Trump, sondern sei in der Ära von Barack Obama angeordnet worden, brachte er in Erfahrung.

Alles in allem zeigt sich Schröder in München über mehr als eine Stunde tatsächlich als jemand, der den „ Schulz-Effekt“ vollkommen vergessen lässt. Klar, er ist 73, doch in diesem Alter war auch Helmut Schmidt noch einmal für ein Comeback als Kanzler gehandelt worden. „Unser Elder Statesman“, wie ihn Diplomat Michael Steiner an diesem Europa-Tag auf offener Bühne lobt, geht selbst inzwischen einigermaßen fröhlich mit seinen alten Titeln um. Als er in München wieder und wieder als „Herr Bundeskanzler“ umschmeichelt wird, platzt es aus ihm heraus: „Lassen wir es bei Schröder! Es hat sich ausgekanzlert.“

Und doch ist er, bei aller Koketterie, derzeit so präsent wie in früheren Jahren. Die Leute fragen: Wo ist Schulz? und erleben: Hier ist Schröder. Er reist zu Unternehmern nach Bielefeld, adelt die Feier zu 150 Jahre Unterbezirk Wiesbaden, er gibt Interview auf Interview und empfiehlt etwa aktuell im „Münchner Merkur“ Ampelkoalitionen aus SPD, FDP und Grünen, er ist in einer großen TV-Dokumentation zu sehen und übernimmt zuhauf Aufsichtsratsmandate. So schaut er inzwischen bei Nord Stream, Hannover 96 und Martin Herrenknecht nach dem Rechten.

In München hat ihn Rechtsanwalt Stavros Konstantinidis, in Verbindung mit Sponsoren, zu den Unternehmern der IHK geholt: „Wir haben gute Verbindungen.“ Die beiden trinken öfter Rotwein zusammen, keinen griechischen, wie Schröder anmerkt. Seinen Zuhörern in München hinterlässt er noch ein Lob der politischen Führung, die wichtige Reformen ohne Rücksicht auf Wahlerfolge angehe, also quasi ein Selbstlob seiner „Agenda 2010“.

Das sei eine schmerzhafte, aber unausweichliche Reform gewesen, „auch wenn sie mich den Job gekostet hat“. Die bei einer Fragerunde im Saal deshalb gespendeten Lobeshymnen quittiert Schröder mit gespielter Ironie: „Danke für die Lorbeeren. Sie ahnen gar nicht, wie recht Sie haben.“ Und einen Fragesteller, der sich als SPD-Kandidat für den Bundestag präsentiert, bescheidet der Altkanzler in aller erhabenen Unabhängigkeit feixend: „Das muss ja nicht sein.“

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