Gesichtserkennung Big Brother auf dem Vormarsch

Im Kampf gegen Schwerstkriminalität und Terror setzen die Sicherheitsbehörden verstärkt auf digitale Fahndungsinstrumente. Der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware boomt regelrecht. Datenschützer reagieren besorgt.

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Pilotprojekt zur Gesichtserkennung im Bahnhof Südkreuz in Berlin. Quelle: dpa

Berlin Für Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) ist die Sache klar. „Der technische Fortschritt darf bei unseren Sicherheitsbehörden nicht Halt machen. Gute Polizeiarbeit braucht mehr als Personal und Befugnisse. Sie braucht auch gute Ausrüstung und intelligente Technik“, sagte der Minister kürzlich zum Start des Pilotprojekts „Sicherheitsbahnhof Berlin Südkreuz“. Bis mindestens Januar testet dort die Bundespolizei Systeme zur automatisierten Gesichtserkennung.

Da werden Erinnerungen an George Orwells berühmten Überwachungsroman „1984“ und sein darin beschriebenes „Big brother is watching you“ wach. Gerade beim Thema Videoüberwachung und Gesichtserkennung fällt schnell der Name des 1950 gestorbenen Schriftstellers. Und in Berlin bekommt man derzeit eine gewissen Ahnung davon, was technisch in dieser Hinsicht geht.

Eine spezielle Software greift am Bahnhof Südkreuz auf bereits vorhandene Videotechnik zu. Die Anwendung gleicht dann in bestimmten Testbereichen Gesichter von Personen mit einer eigens für die Erprobung erstellten Datenbank aus Lichtbildern Freiwilliger ab. Mit dem Probelauf in Berlin soll herausgefunden werden, ob Überwachungskameras und Computer die Gesichter von Fahrgästen automatisch erkennen können. Ministerium, Bundespolizei und Bundeskriminalamt erhoffen sich damit auch neue Erkenntnisse zur Abwehr möglicher Terrorakte. Mit der Technik soll es demnach möglich werden, Straftaten und Gefahren im Vorfeld zu verhindern. Soweit die Theorie.

In der Praxis gibt es jetzt schon massive Bedenken von Datenschützern gegen digitale Fahndungsinstrumente. Dahinter steht die Sorge, dass die Sicherheitsbehörden all das, was technisch möglich ist, auch einsetzen werden, ohne dass der Gesetzgeber etwaige Risiken angemessen bewertet und dafür ein passendes Regelwerk beschlossen hat. Wie grenzenlos die digitalen Möglichkeiten der Fahnder sein können, zeigt das bereits heute Machbare.

So setzt das Bundeskriminalamt (BKA) schon seit zehn Jahren die Software „Face-Vacs“ der Firma Cognitec aus Dresden zu Bildervergleichen ein, um Straftäter dingfest zu machen oder Kinderpornografie im Internet aufzuspüren. Die Bundespolizei sowie die Landeskriminalämter können über Schnittstellen auf das Gesichtserkennungssystem (GES) zugreifen. Die Software erlaubt die automatisierte Suche im großen digitalen Datenbestand des polizeilichen Informationssystems Inpol. Im Mai 2016 waren dort laut Angaben der Bundesregierung rund 4.863.000 Fotos von 3.340.330 Menschen gespeichert.

Das enorme Datenvolumen macht die Datenbank offenbar zu einer begehrten Informationsquelle. Jedenfalls hat die Nutzung der Gesichtserkennung durch das BKA in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen, wie aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervorgeht. Die Antwort liegt dem Handelsblatt vor.

Im Jahr 2016 hat das BKA demnach insgesamt 23.064 Recherchen im zentralen Gesichtserkennungssystem (GES) durchgeführt. Die Anzahl der GES-Recherchen sei somit gegenüber dem Jahr 2015 um 37,5 Prozent (16.773) angestiegen, heißt es in der Antwort. Für dieses Jahr rechnet die Bundesregierung damit, dass das BKA noch stärker von dem Gesichtserkennungssystem Gebrauch macht. „Auf Grundlage der Zahlen aus dem ersten Halbjahr 2017 (16.164 GES-Recherchen) ist mit einem weiteren Anstieg der Zahlen – auch im Jahr 2017 – zu rechnen.“

Die Recherche läuft nach einem komplexen Verfahren ab. Damit der Computer gesuchte Menschen erkennen kann, wird ein sogenannter Merkmalsdatensatz (Template) anhand besonderer Merkmale im Gesicht wie zum Beispiel Wangenknochen, Augenhöhlen, Seitenpartie des Mundes berechnet. Der Abgleich mit dem Template anderer Bilder führt dann, wie es das BKA einmal erklärt hat, zu einer nach Identitätswahrscheinlichkeit gestaffelten Trefferliste.

So ganz traut das BKA der Technik aber nicht. Denn geschulte Experten nehmen bei der Gesichtserkennung eine zentrale Rolle ein. Die Ergebnisse der Software werden noch einmal überprüft. Die Verifizierung erfolgt mittels eines 1:1-Lichtbildvergleichs der infrage kommenden Lichtbilder durch sogenannte Lichtbildsachverständige. Das heißt, jedes einzelne Bild der Trefferliste wird manuell mit der Suchaufnahme abgeglichen.


Kritik von Opposition und Datenschützern

Datenschützer beruhigt die Prozedur keineswegs. Und auch in der Politik ist man besorgt – vor allem wegen der gestiegenen Zugriffe auf die Gesichtserkennungssoftware.
„Dass, was technisch möglich ist, wird auch ausufernd von den Sicherheitsbehörden eingesetzt“, sagte der stellvertretende Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag, Jan Korte, dem Handelsblatt. Und obwohl die Überwachung hierzulande schon auf einem „anhaltend hohen Niveau“ stattfinde, sei zu befürchten, dass sich das angesichts der diversen kürzlich beschlossenen Überwachungsgesetze noch weiter verschärfen werde. „Schon jetzt“, so Korte, „zeichnet sich eine drastische Zunahme von automatisierten Bildabgleichen ab, die nach der kürzlich erfolgten Befugnis zum Aufbau unkontrollierbarer Bilddatenbanken bei den Geheimdiensten ins bodenlose wachsen könnte.“

Die neuen Zahlen zur Nutzung von Gesichtserkennungssoftware durch das BKA alarmieren auch Datenschützer. „Der Anstieg zeigt: Es besteht die Gefahr, dass der biometrische Abgleich von biometrischen Gesichtsmerkmalen schleichend zum Standardverfahren polizeilicher Arbeit wird, ohne dass der Gesetzgeber den Umgang mit dieser Technologie auch nur ansatzweise näher ausgestaltet hätte“, sagte der Hamburger Datenschutz-Beauftragte Johannes Caspar dem Handelsblatt. „Allein das technisch Machbare und die Erleichterung der Polizeiarbeit rechtfertigen einen ungeregelten Einsatz derartig grundrechtlich invasiver Technologien nicht.“

Caspar sieht im Einsatz von Gesichtserkennungssystemen zwar grundsätzlich eine „hilfreiche Maßnahme“, die polizeiliche Ermittlungsarbeit erleichtern und vereinfachen könne. Dies erkläre womöglich auch die steigenden Zugriffszahlen. „Wer könnte ernsthaft gegen die Nutzung von Gesichtserkennungssoftware zur Bekämpfung der Kinderpornographie sein?“ Allerdings sagte Caspar auch, dass sich in der Praxis der Einsatz gerade der Gesichtserkennungstechnologe weit weniger eindeutig gestalte. „Es fehlen häufig am Bestimmtheitsgrundsatz ausgerichtete Eingriffsermächtigungen sowie Vorgaben, die den Bereich von Anlasstaten eingrenzen und Mindestanforderungen an die Verlässlichkeit der Technik vorgeben“, sagte er.

Aus Sicht der Datenschutzbeauftragten des Landes Schleswig-Holstein, Marit Hansen, wäre vor allem ein „umfassender Einsatz der automatisierten Gesichtserkennung problematisch“. Nach geltendem Recht dürfe die Polizei zwar Bildmaterial von Straftaten mit ihren Datenbanken von verurteilten Tätern oder Fahndungsfotos abgleichen. „Aber die weitergehenden Ideen und praktischen Versuche, biometrische Fahndungssysteme mit Videoüberwachung zu koppeln und die Gesichter der vorbeigehenden Menschen zu scannen, sind unverhältnismäßig und nicht vom jetzigen Recht erlaubt“, sagte Hansen dem Handelsblatt. „Damit wäre es nämlich nicht mehr möglich, dass sich unverdächtige Menschen im öffentlichen Raum unerkannt bewegen.“ Mit Gesichtserkennung könnten vielmehr „ihre Aufenthaltsorte oder ihr Weg mitgespeichert werden oder die Personen aus einer Menge herausgepickt werden“.

Hansen spielt damit auf das Pilotprojekt Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz an. Den Modellversuch der biometrischen Videoüberwachung sieht auch der Hamburger Datenschützer Caspar kritisch. Vor allem, wenn Passanten betroffen sind, die nicht ausdrücklich eine Einwilligung zu den Aufnahmen erteilt haben. Die Annahme, es bedürfe lediglich eines Hinweises, um sie im Rahmen des Pilotbetriebs rechtmäßig zu erfassen, sei mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbar, sagte Caspar.

Und er gibt außerdem zu bedenken, dass die „beliebige Auswertung von Bilddateien aus allen erdenklichen Quellen, insbesondere aus den zahllosen Videoüberwachungsanlagen zur Aufklärung auch von Bagatelldelikten nicht mit EU-Richtlinie für den Bereich von Justiz und Inneres vereinbar“ sei. „Danach muss die Verarbeitung biometrischer Daten zur eindeutigen Identifizierung von natürlichen Personen unbedingt erforderlich sein und bedarf geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen“, erläuterte Caspar. Daher seien nicht nur transparente und rechtsstaatliche Verfahren notwendig, sondern auch „klare gesetzliche Regelungen, die eine effiziente Kontrolle in derartig sensiblen datenschutzrechtlichen Bereichen ermöglichen“.


900 Bahnhöfe werden mit über 6000 Videokameras überwacht

Das dürfte kein einfaches Unterfangen sein, zumal die Regeln, nach denen die Polizei in Deutschland arbeitet, schon jetzt keine unverhältnismäßigen Eingriffe zulassen. „Aber was unverhältnismäßig bedeutet, wird von Datenschützern oft anders interpretiert als von Ermittlungsbehörden“, sagte die Datenschützerin Hansen. Sehr kritisch sieht die Expertin denn auch die von der Großen Koalition jüngst beschlossene Änderung des Personalausweisgesetzes, mit der die Zugriffsrechte der Sicherheitsbehörden auf Ausweisbilder stark erweitert wurde.

Zwar betone auch dieses Gesetz, so Hansen, dass eine bundesweite Datenbank der biometrischen Merkmale nicht errichtet werde. „Aber das Risiko einer Rasterung der Bevölkerung bei Kopplung mit Videotechnik besteht auch bei dezentralen Abrufmöglichkeiten, zumal bisher unklar ist, wie lange die Bilder bei den abrufenden Behörden gespeichert bleiben“, warnte die Expertin. Für bedenklich hält Hansen auch angebliche Pläne des Bundesverkehrsministeriums, Gesichtsverhüllungen im Fahrzeug zu untersag. Hintergrund dafür ist, dass immer häufiger die Ahndung von Verkehrsordnungswidrigkeiten automatisiert erfolge und ein verdecktes Gesicht die Verfolgung erschwere. „Sind das die Mosaiksteine einer überwachten Gesellschaft?“, fragte die Datenschützerin.

Entscheidend dürfte am Ende wohl sein, ob die digitalen Fahndungsmöglichkeiten tatsächlich einen Mehrwert für die Kriminalitätsbekämpfung und also auch für die Sicherheit der Bürger bringen. Mit absoluter Gewissheit lässt sich das nicht sagen. Denn ob die durch das BKA derzeit praktizierte Gesichtserkennung Erkenntnissen erbrachte, die „wesentlich“ zur Aufklärung von Straftaten beigetragen hat, kann die Bundesregierung nicht sagen. Sie begründet dies damit, dass hierzu keine statistischen Zahlen vorlägen. Zugleich betont die Regierung jedoch, „dass nur aufgrund des Bildabgleiches frühzeitig erkennbar wird, ob der in Form des kinderpornografischen Bildmaterials dokumentierte sexuelle Missbrauch eines Kindes bereits strafrechtlich verfolgt bzw. aufgeklärt, respektive Täter und Opfer identifiziert wurden“.

Dessen ungeachtet arbeiten die Sicherheitsbehörden weiter an der Verbesserung der Verfahren zur Gesichtserkennung – nicht nur im Berliner Bahnhof Südkreuz. Erst vor wenigen Monaten hat das BKA die Software „Examiner“ getestet. Die Anwendung, die ebenfalls von der Dresdner Firma Cognitec kommt, wurde laut BKA von der Abteilung Polizeilicher Staatsschutz im Bereich internationaler islamistischer Extremismus und Terrorismus im, wie es im Fachjargon heißt, „Probewirkbetrieb“ eingesetzt. Das System gleicht automatisch Gesichter, die per Videoüberwachung erfasst werden, mit Aufnahmen in Datenbanken ab. Ob erfolgreich oder nicht, lässt sich noch nicht sagen. Die Auswertung der Ergebnisse sei noch nicht abgeschlossen, erklärte das BKA auf Anfrage.

Klar scheint jedoch heute schon, dass für die Sicherheitsbehörden diese Art von digitaler Fahndung immer wichtiger werden dürfte. Big Brother ist längst auf dem Vormarsch. So baut etwa Deutsche Bahn in Zusammenarbeit mit dem Bundesinnenministerium und der Bundespolizei ihre Videoanlagen kontinuierlich aus. Derzeit werden Ministeriumsangaben zufolge etwa 900 Bahnhöfe mit über 6.000 Videokameras überwacht. In rund 50 großen Bahnhöfen werden die Videobilder live ausgewertet.

Auch die Bundespolizei kann diese Bilder verfolgen. Zugriff auf die aufgezeichneten Videodaten hätten aber „allein die Strafverfolgungsbehörden sowie die Bundespolizei“, betont das Ministerium. Innenminister de Maizière will die Videomaßnahmen indes nicht isoliert betrachten. „Intelligent mit Systemen zur Gesichtserkennung verknüpft, können sie in Zukunft auch ein effektives Fahndungsmittel sein“, sagte er Anfang des Jahres im Bundestag. Und er fügte hinzu: „Wir arbeiten zurzeit daran, noch ist es Zukunftsmusik, aber es ist etwas, was wichtig ist und hilft.“

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