Gesprächsprotokolle von Helmut Kohl Eine formidable Lesertäuschung

Heribert Schwan ist mit den Kohl-Protokollen ein Vermächtnis gelungen. Es sagt allerdings mehr über den Autor aus als über den Ex-Kanzler. Eine Rezension.

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Wer in den Kohl-Protokollen völlig neue Einblicke in das Seelenleben des Machtmenschen Helmut Kohl erwartet, wird enttäuscht. Quelle: REUTERS

Was wurde nicht schon alles über Helmut Kohl geschrieben: abwägende Biographien, devote Huldigungen und schonungslose Portraits. Interessierten steht bereits eine umfassende Palette an einschlägiger Literatur rund um den Ex-Kanzler zur Verfügung. Das heute erscheinende Buch „Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle“ verspricht wieder einmal völlig neue Einblicke in das Seelenleben des Machtmenschen Helmut Kohl. Das ist freilich eine formidable Lesertäuschung.

Anders als der Titel vermuten lässt, ist das Buch keineswegs eine reine Abschrift jener Gespräche, die der ehemalige WDR-Journalist und Ghostwriter der Kohl-Memoiren, Heribert Schwan, mit dem Ex-Kanzler vor mehr als zwölf Jahren geführt hat. Es ist vielmehr nur eine bescheidene „Essenz“ jener mehr als 600 Stunden langen Tonbandaufzeichnungen. Die Zitate sind aus rechtlichen Gründen sehr knapp bemessen. Schlimmer noch: Im Kern geht es in dem Buch gar nicht um Kohl, sondern um den Autor selbst.

So schreibt Heribert Schwan auf den ersten 60 Seiten des knapp 250-Seiten langen Werks über Heribert Schwan. Das klingt dann so: „Als Kohl 1982 den sozialdemokratischen Bundeskanzler Schmidt stürzte, habe ich, damals Hörfunkredakteur beim Deutschlandfunk, im Studio mit den Tränen gekämpft und dachte, das darf doch nicht wahr sein, dass dieser Mann jetzt an die Macht kommt.“

Aber: „Irgendwie mochte ich diesen Kerl […]. Ich empfand das Bedürfnis, den unsanft aus der Macht Gefallenen beim Abfassen seiner Verteidigungsrede in einem öffentlich nicht immer fair geführten Prozess zu unterstützen.“

Und diese Unterstützung funktionierte ganz wunderbar. Die ersten drei Bände von Kohls autobiographischen „Lebenserinnerungen“ erschienen 2004, 2005 und 2007. Beide Seiten waren äußerst zufrieden, die Bücher Bestseller.

Doch im Februar 2008 – die ersten 350 Seiten des abschließenden vierten Bandes hatte Schwan schon fertig geschrieben – kam es zu jenem „fatalen Unfall, der Kohls weiteres Leben so dramatisch verändern sollte. War es ein Sturz auf den Hinterkopf? War es ein Infarkt? Er kann jedenfalls kaum noch sprechen […]. Er ist nicht mehr Herr seiner selbst“.

Seitdem ist alles anders. Helmut Kohls zweite Frau, Maike Kohl-Richter, wolle sich „die alleinige Deutungshoheit“ über das Vermächtnis des Ex-Kanzlers sichern. „Diesem Ansinnen gilt es sich zu widersetzen. Auf juristischem, aber eben auch auf publizistischem Wege“, schreibt Schwan. „Nun wird nichts mehr gefiltert. Helmut Kohl darf Klartext reden.“

Bahnbrechende Erkenntnisse bleiben dabei freilich aus. Kohl lästert, wie er es immer getan hat. Fällt schonungslose Urteile, ist gnadenlos, teils einfach nur bitterböse. Eine Kostprobe:

  • Angela Merkel: „Diese Dame ist ja wenig vom Charakter heimgesucht.“ Da könne „man sich nur bekreuzigen“. 1999 forderte Angela Merkel in der FAZ eine Trennung von Kohl.
  • Christian Wulff: „Das ist ein ganz großer Verräter. Gleichzeitig ist er auch eine Null.“ Wulff hatte sich nach Ansicht von Kohl viel zu despektierlich über den Ex-Kanzler geäußert.
  • Rita Süssmuth: „Die Schreckschraube, die sich wegen günstiger Todesfälle in der Frauenunion hochhievte ins Kabinett.“ Kohl nahm Süssmuth besonders übel, dass sie ihn immer wieder daran erinnerte, dass Macht in einer Demokratie teilbar sein sollte.
  • Lothar Späth: „Er ist natürlich einer der Dreckigsten.“ Späth hat mit anderen „Verrätern“ versucht, Kohl am Parteitag 1976 zu stürzen.
  • Christian Ströbele: „ein Subjekt.“ Ströbele hat es gewagt, Kohl im CDU-Spendenausschuss mit präzisen Fragen zu traktieren.
  • Otto von Lambsdorff: „Ein Büttel des Großkapitals.“ Kohl nahm Lamdsdorff vor allem seine Indiskretionen übel.
  • Hildegard Hamm-Brücher: „Diese Spezialziege, eines der bösesten Weiber in der Geschichte der Republik.“ Hamm-Brücher hat von Kohl immer wieder gefordert, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen und Kohl damit zur Weißglut gebracht.

Kohl pur

Weitere Schmäh-Zitate des Altkanzlers haben wir in einer Bildergalerie zusammengefasst.

Bei Kohls Aussagen ist zu bedenken, wann die Gespräche geführt wurden. In den Jahren 2001 und 2002 trafen sich Kohl und Schwan zu 105 Sitzungen im Oggersheimer Bungalow Kohls, um dessen Lebensgeschichte aufzuarbeiten. Kohl hatte sich im Zuge der Parteispendenaffäre mit beinahe allen überworfen.

Seine damalige Frau Hannelore beging 2001 Selbstmord. Kohl rechnete ab, ließ keinen aus. Alle Kränkungen, die er im Laufe seiner Karriere erlitten hatte, arbeitete er ab. Schuld waren immer die anderen.

Helmut Kohl – von blühenden Landschaften zur Selbstdemontage
Im Schatten des Alten: Das Bild aus dem Jahr 1967 zeigt Helmut Kohl, damals gerade Landesvorsitzender der rheinland-pfälzischen CDU, wie er seinem politischen Vorbild Konrad Adenauer folgt. Der junge Kohl hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine steile Parteikarriere hinter sich: Mit 17 Jahren war er 1947 in die CDU eingetreten, seit 1955 hatte er einen Sitz im Landesvorstand inne. 1959 war er in den Landtag von Rheinland-Pfalz gewählt worden, vier Jahre später hatte er den Vorsitz der CDU-Landtagsfraktion übernommen. 1964 war Kohl in den Bundesvorstand der CDU eingezogen. Quelle: dpa
Am 19. Mai 1969 übernimmt Kohl von Peter Altmeier das Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten. Ein Sonderparteitag der CDU wählt ihn am 12. Juni 1973 in Bonn zum Bundesvorsitzenden der Partei. Zwei Jahre zuvor hatte er sich noch Rainer Barzel geschlagen geben müssen. Das Foto zeigt Kohl mit seiner Ehefrau Hannelore und den Söhnen Peter (r.) und Walter im Sommerurlaub im österreichischen St. Gilgen. Quelle: dpa
Im Juni 1975 tragen die Präsidien von CDU und CSU Helmut Kohl die Kanzlerkandidatur an. Kohl nimmt an - und verliert. Bei der Wahl am 3. Oktober 1976 kann der Kanzlerkandidat zwar mit 48,6 Prozent das bis dahin zweitbeste Ergebnis aller Zeiten für die Unionsparteien einfahren, erreicht aber nicht die Ablösung der Regierung Schmidt. Nach der Wahl gibt Kohl das Ministerpräsidentenamt in Rheinland-Pfalz an Bernhard Vogel ab und geht als Oppositionsführer nach Bonn. Quelle: rtr
Nachdem die FDP 1982 die Koalition mit der SPD verlassen hat, gelingt es Helmut Kohl, sich in einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt durchzusetzen. Der Bundestag wählt ihn am 1. Oktober 1982 zum Kanzler. Bereits vor der Verkündung des Abstimmungsergebnisses nimmt Kohl die Glückwünsche seiner Parteifreunde entgegen. Quelle: dpa
Nach dem gewonnen Misstrauensvotum macht Kohl im Dezember 1982 den Weg für Neuwahlen frei. Er stellt die Vertrauensfrage und bekommt wie vorher abgesprochen keine Mehrheit. Bei der Bundestagswahl am 6. März 1983 erreicht die Union 48,8 Prozent der Wählerstimmen und bildet eine Koalition mit der FDP. Der Bundestag wählt Kohl am 29. März erneut zum Kanzler. Das Foto zeigt ihn, wie er nach der Wahl auf seine Vereidigung wartet. Kohl ist am Ziel - und am Anfang. Quelle: dpa
Zu einer historischen Geste kommt es am 22. September 1984: Der französische Staatspräsident Francois Mitterrand und der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl reichen sich über den Gräbern von Verdun auf dem Soldatenfriedhof Douaumont die Hand. Ähnlich wie der Kniefall von Willy Brandt in Warschau wird der Handschlag von Verdun zu einem Symbol, das es in die Geschichtsbücher schafft - er steht sinnbildlich für die deutsch-französische Aussöhnung. Quelle: dpa
Am 7. September 1987 empfängt Helmut Kohl den DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker mit militärischen Ehren in Bonn. Für Honecker ist das der Höhepunkt seiner Karriere - er wird behandelt wie die Regierungschefs aus Washington, London oder Paris. Honecker und die DDR werden jetzt auch von der Bundesrepublik anerkannt, an eine baldige Wiedervereinigung glaubt kaum noch jemand. Zwei Jahre später fällt die Mauer. Quelle: dpa

Viele der Aussagen Kohls, die Schwan genüsslich in dem Buch zitiert, hatte der Ex-Kanzler ausdrücklich nicht für seine Memoiren freigegeben. Schwan interessiert das jedoch herzlich wenig. „Da Helmut Kohl in allererster Linie ein Mann der Öffentlichkeit war und noch immer ist […], darf die 600-Stunden-Bilanz seines Lebens nicht in einem Oggersheimer Keller versauern.“

Selten gehen die Gesprächsprotokolle über aber Abfälligkeiten hinaus. In den wenigen großen Momenten des Buches reiht Kohl keineswegs Schmähungen aneinander, sondern schildert lebhaft zwischenmenschliche Begegnungen.

Mit Boris Jelzin, dem einstigen Präsidenten Russlands, stieg Kohle etwa in die Sauna, um unter Dampf Weltpolitik zu betreiben. „Wenn man nackt auf der Liege liegt und sich über irgendeine Geschichte unterhält, ist das doch etwas anderes, als wenn man geschniegelt mit einer großen Entourage im Konferenzsaal hockt.“

Grandios auch Kohls Erinnerung an eine Wanderung mit Franz Josef Strauß in den bayrischen Alpen: „Strauß war nicht mehr gut zu Fuß. Da habe ich ihn die letzten fünfzig Meter auf dem Buckel geschleppt. Erst später ist mir der Gedanke gekommen, was eigentlich passiert wäre, wenn er mir runtergefallen wäre. Das hätte mir kein Mensch geglaubt. Die hätten alle geschrieben: Der hat ihn runtergeschmissen!“

Leider sind solche Momente in dem Buch rar. Hängen bleibt vor allem das große Lästern. Politjunkies werden beim stolzen Preis von 19,99 Euro für die gebundene Ausgabe zwar trotzdem auf ihre Kosten kommen; alle anderen müssen aber darauf hoffen, dass Heribert Schwan gelingt, was eigentlich sein Anliegen ist: Sobald es die Rechtsprechung zulässt, die Tonbandaufnahmen „in toto zu publizieren“.

Nur bei gravierenden Wiederholungen, redaktionell gekürzt. Sonst aber: gänzlich unverstellt. Kohl pur.

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