Gesundheitspolitik Röslers Irrtum von den kranken Alten

Gesundheitsfürsorge wird teurer, weil das Volk altert und der Fortschritt viel kostet, behauptet Minister Rösler. Darauf gründet seine Reform. Doch für diese These fehlt jeder Beweis.

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Bundesgesundheitsminister Quelle: dpa

Seit die schwarz-gelbe Bundesregierung sich entschlossen hat, den Arbeitgeberbeitrag zur Krankenversicherung einzufrieren und den künftigen Anstieg der Gesundheitsausgaben allein von den Versicherten über Zusatzbeiträge zahlen zu lassen, laufen die Kanzlerin und ihr Gesundheitsminister mit einer zentralen Botschaft durch das Land: An steigenden Gesundheitsausgaben führe keine noch so ausgeklügelte Strukturreform vorbei, weil in der alternden deutschen Gesellschaft der Therapiebedarf steige und der medizinische Fortschritt das System immer teurer mache.

Um zu verhindern, dass dieser unvermeidbare Kostenanstieg das Wirtschaftswachstum stranguliert, dürfe die Wirtschaft nicht länger über steigende Lohnzusatzkosten an seiner Finanzierung beteiligt werden. Es gehört zu den erstaunlichsten Phänomenen der aktuellen Debatte, dass bislang kaum Zweifel an dieser Kernthese schwarz-gelber Gesundheitspolitik laut geworden sind.

Länger gesund

So glauben nach einer aktuellen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung 80 Prozent der Bevölkerung, dass die Gleichung, mehr Alte bedeutet höhere Gesundheitskosten, zutrifft. Dabei weckt schon ein Blick in die Ausgabenstatistik der Krankenkassen Zweifel. Seit Jahren steigt in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) die Zahl der angeblich krankheitsanfälligeren über 80-Jährigen, allein in den vergangenen fünf Jahren um über zehn Prozent.

Trotzdem ist der Anteil der Ausgaben der KVdR an den Gesamtausgaben der Kassen seit der letzten Umstellung der Statistik im Jahr 2002 nur von 47 auf 49 Prozent gestiegen. Seither haben sich aber die Gesamtausgaben um dramatische 20 Prozent erhöht und werden dieses Jahr um weitere zehn Prozent steigen. Wer immer dafür verantwortlich ist, die Demografie ist es nicht.

In der wissenschaftlichen Forschung gibt es längst zahlreiche Hinweise, warum das so ist. Dort hat man nämlich herausgefunden, dass ein längeres Leben mit mehr gesunden Lebensjahren einhergeht und nur gegen Lebensende die Therapiekosten stark steigen. Dazu passt der erstaunliche Befund, dass in den alternden Industriegesellschaften das individuelle Risiko, pflegebedürftig oder behindert zu werden, seit Jahren sinkt. Insgesamt werde die deutsche Gesellschaft immer gesünder, fand das Robert-Koch-Institut heraus. Grund ist nicht der medizinisch-technische Fortschritt, sondern die immer gesündere Lebensweise der Menschen.

Überschätzter Kostentreiber

Auch dessen Rolle als unvermeidbarer Kostentreiber wird überschätzt. Zwar sind es in der Tat vor allem neue Medikamente, neue Operationsverfahren und Medizintechnik für Therapie und Diagnostik, die die Ausgaben der Kassen steigen lassen. Doch ein großer Teil dieses Fortschritts ist von zweifelhaftem Nutzen, also verzichtbar. Der Anteil der Kassenleistungen, für die es 2008 einen Nutzen- und Wirksamkeitsnachweis gab, lag nach einschlägigen Studien nur zwischen 34 und 43 Prozent.

Ein besonders dramatisches Beispiel ist der massive Einsatz sehr teurer, angeblich innovativer Krebsmittel an deutschen Krankenhäusern. Sie haben große Nebenwirkungen, verlängern das Leben der Patienten nur um Tage oder Wochen, verursachen aber Zusatzkosten in Milliardenhöhe bei den Krankenkassen. Auch der seit einigen Jahren zu beobachtende Boom bei Rückenoperationen, Knie- und Hüftgelenksimplantaten weckt Zweifel, ob die teure OP immer das Mittel der Wahl war, um den Patienten wirksam zu helfen.

Zudem ist schwer zu begründen, warum der Fortschritt überall auch zu Kostensenkungen führt, nur im Gesundheitswesen nicht. Es spricht viel dafür, dass dies weniger mit den echten Kosten neuer Techniken, Verfahren und Medikamente als mit mangelndem Wettbewerb im Gesundheitssystem und der daraus folgenden geringen Preiselastizität der Nachfrage zu tun hat. Sie macht es möglich, dass eine OP-Schere immer noch das Vielfache einer genauso präzise gearbeiteten Haushaltsschere kosten kann.

Kein Anreiz für Arbeitgeber

Auch der letzte Teil von Merkels Botschaft steht auf tönernen Füßen. Es mag sein, dass die Exportwirtschaft gestärkt wird, wenn die Unternehmen sich am künftigen Gesundheitskostenanstieg nicht beteiligen müssen, obwohl die Lohnzusatzkosten bislang weniger als ein Prozent der Gesamtkosten eines typischen Exportprodukts ausmachen. Doch zur Entlastung der Wirtschaft gehört auch die Gegenrechnung: die Schwächung der Konsumkraft von 70 Millionen Versicherten durch steigende Zusatzbeiträge und für den Sozialausgleich notwendig werdende Steuererhöhungen. Sie wird die Wachstumskräfte auf jeden Fall tüchtig dämpfen.

Schwerer wiegt, dass den Arbeitgebern mit dem Einfrieren ihres Kassenbeitrags jeder Anreiz genommen wird, Druck auf die Politik zu machen, durch echte Strukturreformen die Effizienzreserven im Gesundheitssystem zu heben, statt sich damit herauszureden, dass alles teurer werden muss, weil wir älter werden und der Fortschritt kostet.

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