Gewaltwelle in Deutschland Sieben Mittel gegen die Angst

Völlig unerwartet hat die Gewaltwelle Deutschland nicht getroffen. Trotzdem scheint die Seele der Nation angefasst. Furcht und Dünnhäutigkeit sind aber nicht immer rational – ein Streifzug zwischen Fakten und Gefühlen.

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Deutschland trauert um die Opfer von München und den anderen Bluttaten. Quelle: dpa

Berlin Die meisten Menschen möchten gerne auf der sicheren Seite leben. Doch gerade schwindet das Gefühl dafür, wo diese sichere Seite liegt. Paris, Orlando, Nizza, Würzburg, München, Ansbach - die Namen der Städte stehen für Anschläge, die wie eine schlimme Serie wirken. Nicht wie eine zufällige Häufung. Ausbrüche einer unheimlichen Gewalt, die näher an unseren Alltag rückt.

Seien es Amokläufer wie in München, islamistische Fanatiker oder psychisch kranke Täter: Unsicherheit schürt Angst, sagen Experten. Oder zumindest Sorge. „Seit Ansbach weiß man, dass in der Provinz auch jederzeit was passieren kann“, beschreibt eine Frau, die nach zehn Jahren aus der Millionenstadt Köln ins Allgäu zurückzieht, ihre Stimmung.

Ähnliche Sätze fallen gerade überall. Nah an den bayerischen Tatorten, aber auch Hunderte Kilometer entfernt. Im ICE in Norddeutschland wird eine Reisende nervös, weil ihr Gegenüber zu lange auf die Toilette entschwindet. Sein Rucksack steht neben dem Sitz. Horrorbilder rasen durch den Kopf: In Ansbach wollte ein 27-jähriger Syrer mit einer Bombe im Rucksack auf ein Konzertgelände.

Fahrgäste einer Regionalbahn von Ochsenfurt nach Würzburg, in der ein 17-jähriger Flüchtling mit einer Axt auf Menschen losging, meinen: Gewalttäter könnten überall zuschlagen, machen könne der Einzelne eh nichts dagegen.

Polizisten patrouillieren in der Hochphase der Unsicherheit verstärkt an großen Bahnhöfen. Nun schützen sie auch den Start der Bayreuther Opernfestspiele: mit Spürhunden und Absperrgittern. Der Konzertveranstalter Marek Lieberberg kündigt an, dass Wachleute bei Pop-Events schärfer filzen werden. Besucher sollten Rucksäcke und Helme zu Hause lassen. Vom Heavy-Metal-Spektakel Wacken Open Air im Norden bis zum Bierzelt-Vergnügen beim Oktoberfest in München - das Feiern erhält einen unheimlichen Rahmen.

Und wie geht es weiter mit der Angst? Und mit dem Mehr an Schutzmaßnahmen, die nach dem Urteil vieler Experten nie 100 Prozent Sicherheit bringen? Der Angstforscher Borwin Bandelow beurteilt die Seelenlage der Nation trotz allem durchaus optimistisch: „Selbst wenn die Zahl der Anschläge hierzulande weiter zunehmen sollte, wird sich unsere Gesellschaft nicht zu ihrem Nachteil verändern. Wir werden jedenfalls keine Gesellschaft der Angst“, sagt er.

Bei überbordender Angst und Unsicherheit halten viele Fachleute ein Gegenmittel für besonders hilfreich: Wissen. Nicht nur über Ursachen von Amoktaten Einzelner und politischen Terror des Islamischen Staates (IS). Sondern das Wissen über Ängste und wirkliche Lebensrisiken. Und etwas Gelassenheit.

1.) Der Schrecken trifft uns nicht unerwartet

Völlig unerwartet trifft die Gewaltwelle die wenigsten. Schon nach den Anschlägen in Frankreich und Belgien 2015/16 gab es Spuren der islamistischen Mörder zu uns. In Istanbul zündete im Januar ein IS-Angreifer eine Bombe in einer deutschen Reisegruppe. Zwölf von ihnen starben. Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagt seit Monaten im Fernsehen Sätze wie: „Die Gefährdungslage war und ist hoch.“ Im November 2015, nach den IS-Attentaten in Paris mit 130 Toten, formulierte der CDU-Politiker: „Deutschland steht unverändert im Fadenkreuz des internationalen Terrorismus.“ Und in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov gaben schon im vergangenen Dezember zwei Drittel der Befragten zu Protokoll: Sie rechneten für 2016 mit einer IS-Attacke in ihrem Land.

Zugleich notierten Trendforscher, dass viele Leute sich ins Private zurückzögen. Freunde und Familie stünden hoch im Kurs. Sie interpretierten das als Reaktion auf steigende Verunsicherung durch Terrorismus und die Ankunft von rund einer Million Flüchtlingen und Migranten. Das Ziel: Abschirmen gegen Übermächtiges, das von außen die Geborgenheit bedroht. „Die „German Angst“ kommt wieder“, fasste Horst W. Opaschowski seine Erkenntnisse zusammen.

2.) Schnelle Folge steigert Furcht

Zum Umgang mit Risiken gehört es durchaus, nicht ständig dran zu denken: „Bei vielen tritt ein Verdrängungseffekt ein. Man versucht, sein eigenes Leben weiterzuleben“, erläutert Michael Krämer, Präsident des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen. „Aber wenn ein bedrohliches Ereignis auf das andere folgt, so wie wir das jetzt erlebt haben, wird es natürlich schwierig mit dem Verdrängen. Dann werden Terror und Gewalt immer wieder neu ins Bewusstsein gehoben.“ Mit anderen Worten: Das Verdrängen hat Grenzen.

Ähnlich sieht es der Kriminalpsychologe Rudolf Egg: „Nizza und Würzburg, aber auch Orlando und der Putschversuch in der Türkei: Es ist eine Kette von schlimmen Ereignissen, die sich in das Bewusstsein der Menschen eingeprägt haben.“ Selbst Dinge, die nichts miteinander zu tun hätten, würden sich im Kopf mischen.

3.) Angst hat irrationale Anteile

Ohnehin sind Furcht und Dünnhäutigkeit nicht immer rational begründet - also von Zahlen und Fakten untermauert. Im Gegenteil. Risikoforscher Ortwin Renn wird nicht müde zu erklären, warum sich viele vor dem Falschen fürchten. Etwa vor einem Flugzeugabsturz - der selten und unwahrscheinlich ist. Aber weniger vor einer Autofahrt, obwohl im Straßenverkehr in Deutschland 2015 mehr als 3450 Menschen starben. Weltweit kommen sogar mehr als eine Million Menschen jährlich im Verkehr ums Leben.

Ungesunde Essgewohnheiten, zu viel Fett und Zucker, rutschen trotz hohen Gesundheitsrisikos und Krebsgefahren als kleine Sünden durch. Gewitter und Blitz dagegen lassen viele Leute zittern. Dabei rechnet Renn pro Jahr mit etwa sieben Toten durch Blitze hierzulande.

Und die Terrorangst? „Statistiken kann man nur über Zeiträume berechnen und nicht auf der Basis von Einzelfällen hochrechnen“, stellt Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institut for Advanced Sustainability Studies in Potsdam, klar. „Wenn man die letzten 20 Jahre als Vergleichsmaßstab nimmt, hat man in ganz Europa 48 Terror-Tote pro Jahr, in Deutschland war es bislang nicht einmal einer. Da schlagen sich vor allem die zehn Morde des rechtsextremen NSU nieder. Auch wenn man den Anschlag von München nun dort einordnen würde, liegen wir immer noch weit unter den Zahlen anderer Länder.“

Professor Günther Schlee vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale verweist ebenfalls auf Wahrscheinlichkeiten: „Denn rein statistisch gesehen, so beunruhigend die aktuelle Situation auch ist, ist es sehr viel wahrscheinlicher durch einen Unfall auf der Straße ums Leben zu kommen als durch eine Gewehrkugel oder Bombe.“


Auch Flüchtlinge haben Angst

4.) Wie das Gehirn Gefahr verarbeitet

Diese Widersprüche lassen sich auch mit dem Aufbau unseres Gehirns erklären. Dort verarbeitet derselbe Mensch bedrohliche Ereignisse an unterschiedlichen Stellen auf unterschiedliche Art. Einmal rational und einmal emotional. Und zum Teil ist es auch eine Typfrage, welche Seite dominiert.

Angstforscher Professor Bandelow erläutert: „Im Gehirn gibt es zwei Zentren. Das eine sagt: Die statistische Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist verschwindend gering. Das andere sagt: Ich habe trotzdem Angst, wenn im Bus oder der Straßenbahn ein Mann mit dunklem Bart sitzt.“ Und dieses „Angstsystem“ lasse sich nicht von Zahlen und Wahrscheinlichkeiten beeinflussen. „Deswegen gibt es Menschen, die sich völlig irrational aus dem öffentlichen Leben zurückziehen.“

Wir überschätzen in der Regel Risiken von Ereignissen, die für uns persönlich kaum zu kontrollieren sind - wie eben Amok und Terror. Wir spielen dagegen Risiken herunter, wo wir uns als Herr oder Frau der Lage wähnen. Das gilt, wenn wir ein Fahrrad gegen die Richtung in die Einbahnstraße steuern ebenso wie für Hausarbeit. Und das, obwohl die Statistiker hierzulande im Jahr rund 9000 Tote bei Unfällen im Haushalt zählen.

5.) Zur Angst gehören Auf und Ab

Grundsätzlich stellen Experten heraus: Neue, noch unbekannte Gefahren erschrecken uns besonders. Unsichtbares, Vages, Fremdes - wie Strahlung, große Finanzkrisen und Ebola-Viren - verängstigen manche rasch. Experten klagen über wahre Panikwellen, die von aufgeregten Berichten in klassischen Medien und sozialen Netzwerken befeuert werden.

Risiken, die weit entfernt oder zu komplex wirken, schieben Menschen so lange wie möglich beiseite - wie Gefahren durch Armut und Hunger in der Welt. Einzelereignisse wiederum, bei denen viele gleichzeitig sterben, können sich schlagartig einbrennen.

Wenn ein Ereignis längere Zeit zurückliegt, nimmt die Angst meist wieder ab. Der Göttinger Forscher Bandelow rechnet mit vier Wochen. Aktuell gönnt die Realität dem Gehirn wenig Pausen. „Im Moment haben die Menschen wegen der dicht aufeinander folgenden Ereignisse allerdings gar keine Gelegenheit, sich wieder zu beruhigen“, resümiert er.

6.) Auch Flüchtlinge haben Angst

Besonders schwer zu fassen scheint ein Punkt: Viele Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, Afghanistan und dem Irak fliehen vor Krieg und Terror. Zugleich sind es auch einige Menschen aus diesen Herkunftsstaaten, die in Europa zu Gewalttätern werden.

Die Zahlen, mit denen Risikoforscher wie Ortwin Renn argumentieren, helfen wohl nur bedingt gegen das Unverständnis. 99,9 Prozent suchten Frieden, sagt er. Aber die wenigen politisch Fanatisierten, die gebe es eben auch. Und die Traumatisierten, die mit schlummernden Aggressionen ankommen. „Das ist ein Potenzial an Gewaltbereitschaft, das wahrscheinlich höher ist, als wenn man eine gleich große Gruppe Deutscher zum Vergleich heranziehen würde“, sagt er.

Am Tatort in Ansbach demonstrierten Asylbewerber kurz nach dem Anschlag, der 15 Menschen verletzte, für Akzeptanz. Auf ihren Schildern standen Dinge wie „Wir liefen vom Mord weg, weil wir friedlich leben wollen“. Die Deutschlehrerin Franziska Schmidt berichtet, dass die Flüchtlinge Angst hätten: „Sie kommen zu spät zum Deutschkurs oder gar nicht, weil sie Angst haben, auf der Straße angegriffen zu werden.“ Im Kurs habe man darüber gesprochen, wie man der Angst auf beiden Seiten begegnen könne.

7.) Was gegen zu viel Angst hilft

Sich offen und ehrlich Austauschen über die Sorgen und Befürchtungen, das raten auch Angst-Experten. Den Einzelnen ebenso wie der Gesellschaft. „Ein guter Rat ist sicher, sich nicht in die Angst hineinzustürzen und sich zurückzuziehen. Sondern stattdessen mit anderen darüber zu reden. Es aussprechen, den Kontakt zu anderen suchen - ein solcher Austausch hilft in den meisten Fällen“, sagt der Psychologe Michael Krämer. Sich einschüchtern zu lassen, sei der falsche Weg. Lieber auf die Straße gehen, demonstrieren und zeigen, dass der Alltag nicht zum Erliegen kommt. „Auch das hilft, weil aus der Angst heraus dann eine Handlung abgeleitet wird, die im Gemeinschaftserlebnis Stärke zeigt.“

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