Gewerkschaften Deutschlands größte Rentnerklubs

Die IG Metall investiert Millionen, Verdi gibt sich eine neue Struktur – alles mit dem Ziel, junge Leute zu gewinnen. Denn die Überalterung ihrer Mitglieder lässt Deutschlands Gewerkschaften gefährlich schrumpfen.

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Die Mitglieder bei IG Metall und Co. werden nicht nur immer älter, sondern auch immer weniger. Quelle: dpa

Berlin Verdi-Chef Frank Bsirske hat ein Luxusproblem. 112.000 neue Mitglieder konnte seine Dienstleistungsgewerkschaft Verdi im vergangenen Jahr von sich überzeugen. Solche Zuwächse könnten nicht viele Organisationen für sich verbuchen, sagt Bsirske selbstbewusst. Allein: Es reicht nicht. Denn den Neuaufnahmen standen 137.000 Austritte gegenüber. Allein 15.000 verstorbene Mitglieder musste Verdi im vergangenen Jahr aus der Kartei streichen. Damit ist die Mitgliederzahl von Deutschlands zweitgrößter Gewerkschaft erstmals unter die Zwei-Millionen-Grenze gerutscht.

„Dass die Neueintritte immer noch nicht ausreichen, um die Abgänge zu kompensieren, ist eine Herausforderung“, sagt Bsirske. Eine Herausforderung, vor der auch seine Kollegen aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) stehen. Etwa IG-Metall-Chef Jörg Hofmann: Knapp 107.000 neue Mitglieder konnte seine Organisation 2017 gewinnen, dem standen 94.000 Austritte gegenüber. Unter dem Strich ist aber auch Deutschlands größte Gewerkschaft geschrumpft – wegen der Sterbefälle. Ein ähnliches Bild bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG): Mit 8.458 neu geworbenen Mitgliedern war sie 2017 erfolgreicher als in den zurückliegenden fünf Jahren. Angesichts einer relativ hohen Quote an Verstorbenen ist die Zahl der Mitglieder insgesamt aber um gut 2.800 auf rund 190.000 zurückgegangen. 

Die Arbeitnehmervertretungen gehören längst zu den größten Rentnerklubs der Republik. Die IG Metall ist zwar stolz darauf, die Zahl der noch im Arbeitsleben stehenden Mitglieder auf den höchsten Wert seit mehr als zehn Jahren gesteigert zu haben. Trotzdem stehen fast 30 Prozent Ruheständler in der Kartei. Bei der besonders vom Strukturwandel betroffenen Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) liegt der Rentneranteil sogar bei rund 40 Prozent.

Die Gewerkschaften müssen hier gegensteuern. Denn Sozialpartnerschaft und Tarifbindung funktionieren nur mit handlungsfähigen Arbeitgeberverbänden auf der einen und durchsetzungsstarken Arbeitnehmervertretungen auf der anderen Seite. Wollen sie sich in ihrem klassischen Geschäft nicht immer stärker von der Unterstützung des Staates abhängig machen, müssen die Gewerkschaften wenigstens den Schrumpfungsprozess stoppen. Im Idealfall müssen sie wachsen.  

Das ist aber nach einer Handelsblatt-Umfrage im vergangenen Jahr allein dem kleinsten DGB-Mitglied gelungen: Die Gewerkschaft der Polizei konnte unter dem Strich um gut 5.100 Mitglieder zulegen. Die politische Debatte über die innere Sicherheit oder kräftezehrende Einsätze wie beim G20-Gipfel in Hamburg dürften dazu mit beigetragen haben.

Die Beschäftigung in Deutschland eilt von Rekord zu Rekord – und die Gewerkschaften halten nicht Schritt. In der Folge sinkt der Organisationsgrad immer weiter. Viele Mitglieder sind in den 70er- und 80er-Jahren eingetreten, als gewerkschaftliches Engagement noch zum guten Ton gehörte. Doch sie gehen jetzt langsam in den Ruhestand. Und neue Mitglieder zu gewinnen, wird in vielen Branchen zunehmend schwieriger.

In der Logistik entstünden etwa viele Jobs bei Paketdienstleistern, die wiederum oft mit ausländischen Subunternehmern oder Scheinselbstständigen arbeiteten, erklärt die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Andrea Kocsis. Da sei es für ihre Organisation schwer, Fuß zu fassen. Ein Teil des Job-Booms basiert zudem auf amerikanisch geprägten digitalen Geschäftsmodellen, wo die klassische deutsche Sozialpartnerschaft nicht verankert ist. Bei Amazon streikt Verdi seit Jahren vergeblich für einen Tarifvertrag, hat aber unter den Beschäftigten inzwischen Organisationsgrade zwischen 30 und 40 Prozent erreicht. Probleme mit der Mitgliederwerbung gibt es auch in der Gastronomie oder im Handel. Niedrige Löhne prägen das Bild, wer etwas Besseres findet, sucht sich eine neue Arbeit, die Fluktuation ist hoch. Gewerkschaftsarbeit stößt hier an ihre Grenzen. Organisationsgrade von 75 Prozent wie bei der Postbank bleiben hier ein Traum.

Mit diesen Problemen kämpft die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Ihre Mitgliederzahl ist im vergangenen Jahr erstmals unter die kritische Marke von 200.000 gerutscht. Gerade sogenannte „prekär“ Beschäftigte zögern oft, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder Betriebsräte zu gründen – aus Sorge, dann auch noch den schlecht bezahlten Job zu verlieren. Die NGG hofft, den Abwärtstrend mit erfolgreicher Tarifarbeit drehen zu können. So verzeichnete sie im vierten Quartal einen leichten Mitgliederzuwachs – getrieben vor allem durch Neueintritte aus der Systemgastronomie. In der klassischen Niedriglohnbranche hatte die Gewerkschaft einen durchaus respektablen Tarifabschluss erstritten.

Bei der IG BCE schlägt sich vor allem der Strukturwandel nieder. Die drittgrößte deutsche Arbeitnehmervertretung zählte Ende vergangenen Jahres noch 637.623 Mitglieder – fast 7.300 weniger als im Vorjahr. Das Ende des Steinkohlebergbaus, der Arbeitsplatzabbau bei der Braunkohle oder den Energieversorgern schlagen hier zu Buche. Arbeiteten zur Jahrtausendwende noch knapp 218.000 Beschäftigte bei den Stromversorgern, so waren es zuletzt nur noch knapp 196.000. „Selbst wenn wir 100 Prozent Organisationsgrad hätten, wären wir nur halb so groß wie die IG Metall“, sagt IG-BCE-Chef Michael Vassiliaidis. Mehr Potenzial geben die Branchen, für die die Gewerkschaft eintritt, einfach nicht her.

Mit Macht versuchen Vassiliadis und seine Leute deshalb, der Überalterung der IG BCE entgegenzuwirken. Die Jugendarbeit funktioniert, zwei von drei Auszubildenden, die in einer der vertretenen Branchen ihre Lehre beginnen, treten bei der Gewerkschaft ein. Die Kunst ist aber, sie auch bei der Stange zu halten. Die IG Metall investiert über einen Zeitraum von neun Jahren insgesamt 191 Millionen Euro in die Mitgliederwerbung. 140 zusätzliche Stellen sind dafür geschaffen worden. „Es ist uns 2017 in den Betrieben gelungen, akademischer, weiblicher und jünger zu werden“, sagt die Zweite Vorsitzende der Gewerkschaft, Christiane Benner.

Allerdings: Der Frauenanteil unter den erwerbstätigen IG-Metall-Mitgliedern liegt bei rund 16 Prozent. Der Anteil der weiblichen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie ist aber mit rund einem Fünftel noch höher. Das die Gewerkschaft in der laufenden Tarifrunde eine temporäre Arbeitszeitverkürzung mit Rückkehrrecht und Teillohnausgleich fordert, ist auch dem Ziel geschuldet, mehr junge Frauen für gewerkschaftliches Engagement zu begeistern.

Bei Verdi will man der Schrumpfung vor allem mit einer Organisationsreform begegnen. Die seit der Gründung 2001 bestehende komplizierte Struktur der 1.000-Berufe-Gewerkschaft soll gestrafft werden. So schlägt der Vorstand vor, die 13 Fachbereiche auf vier zu reduzieren. Ein Hauptziel ist zudem, die Arbeit der Gewerkschaftssekretäre stärker zu fokussieren. Diese sind bisher „Mädchen für alles“, kümmern sich um Mitgliederfragen, organisieren Belegschaften in den Betrieben, übernehmen Rechtsberatung oder machen Tarifpolitik. Diese Aufgaben sollen künftig stärker getrennt werden, mit dem Ziel, mehr Energie in die Mitgliedergewinnung und -betreuung zu stecken. 20 Prozent des Verdi-Etats werden zugunsten der Fachbereichsarbeit umgeschichtet.  

Ohne neue Wege auch abseits der Organisationsreform, wird die Gewerkschaft ihre anspruchsvolle Strategie „Perspektive: Verdi wächst!“ aber kaum zum Erfolg führen können. Ein paar hat sie bereits im vergangenen Jahr erprobt: Rund 5.000 neue Mitglieder wurden durch Straßenwerbung gewonnen, ähnlich viele über Online-Marketing. Und bei der Telekom hat Verdi einen Zugang zum Intranet erstritten. Denn wenn Beschäftigte zunehmend mobil arbeiten, wird es schwerer, sie klassisch im Betrieb anzusprechen.

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