Görlachs Gedanken

Die deutsche Leitkultur ist ein Mythos

Innenminister de Maizière hat zehn Punkte definiert, was die deutsche Leitkultur ausmacht. Doch was ist das überhaupt – die Leitkultur? Und gilt sie für das ganze Land, Regionen oder müssen wir nicht größer denken?

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Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU) hat eine Diskussion über eine deutsche Leitkultur angestoßen. Quelle: dpa

Warum fällt es uns Deutschen so schwer, unsere Kultur zu definieren? Die Leitkultur-Debatte, die von Friedrich Merz am Beginn des neuen Jahrhunderts angezettelt wurde, ist nun zum x-ten Mal wieder beatmet worden. Liegt es vielleicht daran, dass Deutschland, im Spanischen und Französischen mit Alemania beziehungsweise Allemagne angesprochen, übersetzt nicht mehr heißt als "alle Männer"? Damit wurde nach der Völkerwanderung von außen die Vielzahl der auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands siedelnden Stämme benannt. Diese Varianz wurde von außen mit einer gewissen laxen Indifferenz begegnet, weil ein Ausdifferenzieren dem Betrachter unmöglich erschien: die Deutschen, das sind "die vielen Verschiedenen".

Unterhalb dieses Sammelbegriffs tummelten sich (unter anderem) Bajuwaren, Schwaben und Sachsen. An Sprache, Gewohnheiten und Religion verschieden, wurden diese Stämme erst unter Karl dem Großen, unter seiner Reichsidee und mittels der neuen Religion, dem Christentum, geeint. Unter dem Banner "Ein Gott, ein Kaiser" wurde über ein Jahrtausend hinweg, diese Vielfalt eingehegt. Das Streben nach politischem Ausgleich machte es zur Pflicht, im Reich die verschiedenen Mentalitäten und Interessen miteinander zu versöhnen.

Das Bundesverfassungsgericht, das, wie das Reichskammergericht vor ihm, seine Autorität dadurch bezieht, dass es der Vielheit der Interessen mit einem unbestechlichen, fairen Blick gleich begegnet, ist die vom Grundgesetz besiegelte, ewige Anerkennung der kulturellen Vielfalt auf deutschem Boden.

Und noch auf den heutigen Tag kann man erspüren, dass an der Isar anders gelebt wird als am Rhein oder an der Elbe, nicht besser, nicht schlechter, sondern anders. Die Gegenden des Landes, die einst zum Römischen Reich gehörten, verstehen sich kulturell verschieden von den nicht-römischen. Diese Grenze, der Limes, hat das Land gespalten. Gleich zwei weitere Male verlief an ähnlicher Stelle, eine teilende Grenze: die der Glaubensspaltung im Zeitalter der Reformation und der Eiserne Vorhang. Wer möchte bestreiten, dass die katholische Kultur und Lebensweise sich von der der protestantischen unterscheidet? Wer möchte bestreiten, dass der Osten des Landes mit der deutsch-deutschen Teilung eine eigene Identität herausgebildet hat, ganz genauso wie es spezifisch Westdeutsches gibt, an das sich die vor der Wende im Westen Geborenen erinnern?

Alexander Görlach ist Affiliate der Harvard University. Quelle: Lars Mensel / The European

Dessen ungeachtet mag man dennoch einen Konsens darüber erzielen, dass es so etwas wie eine Kultur, an der alle Deutschen teilhaben, gibt. Eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsam durchlebte Geschichte. Schwer wird es in einem nächsten Schritt, wenn man sich anschickt zu benennen, was diese Kultur sei. Unsere Debatte steht im 17. Jahr und bringt doch nichts hervor als Worthülsen, die in Wahlkämpfen abgeschossen werden. Also gibt es diese Kultur, an der alle Deutschen teilhaben, vielleicht doch nicht? Oder sie ist so schwach ausgeprägt, dass sie nicht taugt, um als Klammer um all das herum zu dienen, was deutsch ist?

Wenn wir den heiß diskutierten begriff der Leitkultur einen Moment außer Acht lassen, um nach Alternativen oder Ergänzungen Ausschau halten, die im Diskurs unterwegs sind, werden wir vom gesellschaftlichen Diskus zum "christlich-jüdischen Erbe" gelotst, das als die bestimmende Klammer unserer Kultur beschworen wird. Ist das ehrlich angesichts der Tatsache, dass über Jahrhunderte unsere christlichen Vorfahren die Juden als Menschen zweiter Klasse behandelt und ihre Religion und Kultur verabscheut haben? Der Gedanke drängt sich auf, dass dieser Begriff in der Debatte nicht aufrichtig verwandt wird. 

Was von Menschen, die es besser wissen, dem Auditorium als späte Einsicht verkauft wird, ist in Wahrheit nur ein Danaer-Geschenk an die jüdische Gemeinde und an die gesamte Gesellschaft, die sich nichts sehnlicher wünscht, als ihre Identität und Kultur ins Wort fassen zu können: mit der Betonung auf der Wortschöpfung jüdisch-christlich wird der Kreis der Dazugehörenden eng gezogen und der Weg frei gemacht für die Diskriminierung einer anderen Bevölkerungsgruppe, der Muslime. Der Islam hat in der Tat für die deutsche Geschichte und eine Identitätsbildung aus ihr heraus keine Bedeutung. Aber gehört er wegen der Muslime, die nunmehr mit uns hier leben, nicht - heute - zu Deutschland, wenigstens irgendwie und ein kleines Bisschen? Eine religiöse Zuschreibung funktioniert nur in einem historischem Sinne. Sobald daraus eine normative Forderung für die Gegenwart abgeleitet wird, droht die Vielfalt, die Deutschland auszeichnet unter die Räder zu kommen. Die Geschichte lehrt, dass für eine konfessionelle, eine religiöse Identität ein hoher Preis zu zahlen ist.

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