Görlachs Gedanken

Merkel muss sich erklären: Warum will sie Kanzlerin bleiben?

Zur Flüchtlingskanzlerin wurde Angela Merkel offenbar nur, weil sie Führungsschwäche zeigte. Wenn dieser Befund stimmt, ist die Kanzlerin den Deutschen einige Antworten schuldig – und zwar vor der Bundestagswahl.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel. Quelle: REUTERS

Das neue Buch des Welt-Journalisten Robin Alexander über die dramatischen Tage der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 hat alles Potential, die Bundestagswahl aufzumischen. Denn der Autor kommt nach kleinteiliger und intensiver Recherche zu dem Schluss, dass in den Septembertagen vor zwei Jahren nicht Kants Imperativ oder die Bergpredigt zur Handlungsleitung für Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden als sie die Entscheidung traf, die Flüchtlinge aufzunehmen. Vielmehr war das, was am Ende „Flüchtlingspolitik“ heißen sollte, das Resultat von unentschlossenem und taktierendem Handeln.

„Was also bleibet?“ wird sich der Wähler, der die Bundeskanzlerin bislang für ihre heroische Flüchtlingspolitik geschätzt und respektiert hat, mit diesem Befund des Buches „Die Getriebenen“ fragen. Sicher, Entscheidungen sind nicht leicht zu fällen, niemand beneidet die Bundeskanzlerin um diesen Job. Auch die anderen Kabinettsmitglieder nicht. Aber es zeigt sich doch ein Muster: ein Thema, in diesem Fall die europäische Flüchtlingspolitik, wird auf die lange Bank geschoben, immer drängen andere Themen mehr – bis es zu einer Eskalation kommt, die nur noch im Not-Modus gelenkt werden kann. Aber generell wünschen sich Wähler und Bürgerinnen ja die Handlungsfähigkeit der Regierung, die die Geschicke des Landes lenkt, ganz gleich, ob er für diese gestimmt hat oder eine andere Konstellation favorisiert hat. 

Robin Alexander aber legt dar, dass die Spitzen der Koalition übereingekommen waren, die deutsche Grenze zu schließen und keinen Flüchtling, der aus einem sicheren Drittstaat kam, passieren zu lassen. Alles sei für diesen Schritt aufgebaut und vorbereitet gewesen. Jedoch, als es zum Unterzeichnen des Einsatzbefehls hätte kommen sollen, habe Innenminister de Maiziere mit der Unterschrift gezögert, die Kanzlerin auch. Auch die SPD war unsicher. Da im Moment in den Umfragen nur eine so genannte große Koalition eine Mehrheit zustande bekommt, ist das Buch auch keine Empfehlung für Sozialdemokraten auf die nächste Kanzlerschaft. Eine weitere große Koalition wäre für das demokratische Klima in der Bundesrepublik ohnehin verheerend.

Alexander Görlach ist Affiliate der Harvard University. Quelle: Lars Mensel / The European

Grund für das Zaudern war, dass man sich Bilder von der Grenze, an der eventuell die Bundespolizei Flüchtlinge mit Gewalt am Grenzübertritt hindern würde, auf keinen Fall sehen wollte. Denn Gesetze, so hieß es, die man erlässt, müssen auch umsetzbar sein. Würden die Flüchtlinge die Grenze überqueren, obwohl die Bundespolizei sie daran zu hindern versucht, würde das die Achtung vor dem Rechtsstaat untergraben. Das Problem ist aber nicht, ob man das eine tut oder das andere lässt, ob man Flüchtlinge aufnimmt oder nicht. Robin Alexander legt den Finger in die Wunde. So wie damals Politik gemacht wurde, kann sie zu keinem Ziel führen. Das Land war quasi und faktisch nicht regiert in diesen Tagen.

Gleichzeitig hat diese Rüttelpartie – also Grenzsicherung ja/nein – der Bevölkerung immens zugesetzt. Das erste Interview der Bundeskanzlerin bei Anne Will war, ist und bleibt das Fanal jener Tage, der Punkt, an dem sich viele Sympathisanten einer kontrollierten Einreise von Kriegsflüchtlingen nach Deutschland mit Grausen abwandten. Die Kanzlerin kann nicht die Sicherheit der Grenze garantieren? Der Weg war frei für Fantasien aller Art, die von „Horden“ und „Umvolkung“ schwadronierten. Nicht umsonst nannte man in der AfD die Flüchtlinge ein „Geschenk“ und meinte damit Wasser auf den Mühlen der Ausländer- und Moslemfeinde.

Besonders bitter: Die Bundesregierung konnte die steigenden Flüchtlingszahlen das ganze Jahr 2015 über beobachten und blieb dennoch untätig oder sagen wir zumindest unentschlossen bis zum Schluss – und somit bis zur Eskalation der Krise. Das wurde den Deutschen dann wie eine Art Schicksalsschlag verkauft. Das war scheinbar alternativlos, weil man selbst ja überrumpelt wurde. Dieses Versagen ist nicht ein Versagen Angela Merkels, sondern der gesamten europäischen Politik. 

Deutschland soll und muss seinen Anteil an einer gerechten internationalen Politik leisten. Das tut das Land mit Entwicklungshilfe und dem Einsatz der Bundeswehr dort, wo es rechtlich und moralisch gerechtfertigt erscheint. Die Enthüllungen jetzt kommen zur Unzeit, weil sie, sofern Angela Merkel sie nicht entkräften kann, nicht anderes tun, als zu bestätigen, was die Kritiker der Kanzlerin schon immer sagten: dass sie abwarte, abwäge und am Ende nicht wirklich entscheide, sondern durch das Voranschreiten der Zeit einfach einige der möglichen Optionen und Alternativen weggefallen sind. 

Wenn aber Angela Merkel nur wegen ihrer Unentschlossenheit zu einer Flüchtlingskanzlerin wider Willen geworden wäre, für was und mit welchem Programm tritt sie dann persönlich eigentlich an? Diese Frage wird sie beantworten müssen in den nächsten Tagen, auch wenn die Kanzlerin fast nichts so sehr nervt, wie Interviews zu geben. 

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