Selten war Deutschland so mit sich im Reinen wie in diesen Tagen. Die Griechen seien faul, korrupt, an ihrer misslichen Lage selber schuld, und auf keinen Fall dürfe man nachgeben. Und wenn sie nicht zahlen, dann raus mit ihnen aus dem Euro, am besten zugleich mit allen anderen Wackelkandidaten. Zurück zur D-Mark, die war eine Hartwährung, ein Stück deutscher Identität, ein Spiegelbild unseres Fleißes und unserer Disziplin. Wer mithalten kann, ist gerne eingeladen mitzumachen, die anderen sollen wegbleiben. Deutschland ist nichts für Weicheier, in Währungsfragen schon gar nicht.
Man mag viel über Nutz und Frommen einer Hartwährung sagen, ebenso über das Spektakel einer griechischen Linksregierung, die mit Volksfronttaktiken ihr krisengeschütteltes Land geradewegs in Richtung Argentinien zu führen scheint, wenn nicht Venezuela.
Dennoch beruht der deutsche Währungsstolz auf einem historischen Gedächtnisverlust: Deutschlands eigene finanzielle Gesundung nach dem Zweiten Weltkrieg und die Stabilität der Deutschen Mark waren selbst im Kern das Ergebnis eines massiven Schuldenschnitts. Ohne die Streichung und Streckung von Schulden in ungeheurer Höhe wäre das Wirtschaftswunder kaum möglich gewesen.
Deutschland konnte in den Fünfzigerjahren mit einer Kombination hoher Zuwachsraten in Produktion, Einkommen und Beschäftigung glänzen, hatte aber dennoch keine Inflation und fast ausgeglichene öffentliche Haushalte. Möglich war das aber nur, weil die Staatsschulden durch Schuldenschnitte auf weniger als 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gedrückt worden waren.
So blieb Geld in der Kasse, um ab den späten Fünfzigern bei ausgeglichenem Haushalt die Dynamisierung der Altersrente voranzutreiben, den Ausbau der Krankenversicherung, die Absenkung des Rentenalters, die Senkung der Wochenarbeitszeit, und ganz nebenbei noch wieder aufzurüsten, mit einer Armee, deren hoher Ausrüstungsstand dem heutigen Betrachter die Sprache verschlägt.
Und weil die Auslandsverschuldung bis auf geringfügige Beträge zusammengestrichen worden war, blieben reichlich Devisen übrig, um über die Jahre ein neues, riesiges Auslandsvermögen aufzubauen und nebenbei noch den tatkräftig den Aufbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mitzufinanzieren.
Hier geht es nicht um Kleinbeträge. Am Ende des Dritten Reichs lag die ausgewiesene Staatsschuld bei knapp dem Vierfachen der deutschen Wirtschaftsleistung im letzten Vorkriegsjahr. Die Währungsreform von 1948 strich diese Schulden erbarmungslos auf einen Restbetrag zusammen. Die umgestellte öffentliche Schuld am Anfang der Fünfzigerjahre betrug noch etwa 18 Milliarden D-Mark, ein Schuldenschnitt von über 95 Prozent.
Deutschland mit Schuldenlastquote von knapp 500 Prozent
Dazu trat eine Auslandsverschuldung, die über die Reichsbank gebucht war und in den Statistiken des Reichshaushalts gar nicht auftauchte. Der Löwenanteil hiervon waren Kriegskredite und Kontributionen der besetzten Länder an das Reich während des zweiten Weltkriegs, noch einmal 80 bis 90 Milliarden Reichsmark, sowie vorsichtig gerechnet 15 Milliarden Reichsmark Altschulden aus der Zeit vor 1933. Doppelzählungen herausgerechnet, wäre man damit bei einer Auslandsverschuldung in etwa der Höhe des deutschen Sozialprodukts von 1938 oder wieder von 1950.
Diese Auslandsschulden wurden im Londoner Schuldenabkommen von 1953 geregelt. Nur die Altschulden sollten wieder bedient werden. Die Kriegsschulden selbst wurden von der Regelung ausgeklammert und sollten erst nach einer Wiedervereinigung neu behandelt werden. Dazu ist es nach 1990 aber nie gekommen.
Rechnet man alles zusammen, ergeben sich astronomische Beträge, eine Schuldenlastquote von knapp 500 Prozent, von der nicht mal ein Zehntel bedient worden ist. Auch wenn man rechnet, dass Westdeutschland als deutscher Teilstaat nicht mit der Gesamtschuld belastet werden konnte, verbessert sich das Bild nicht wesentlich.
Schuldenstand der Euro-Länder
Belgien liegt mit 106, 6 Prozent Schulden im Jahr 2014 weit über dem Limit von 60 Prozent.
Der Schuldenstand von Deutschland lag 2014 bei 74,7 Prozent und damit auch weit über dem Limit.
Mit 10,6 Prozent Verschuldung liegt Estland weit unter dem Schuldenlimit.
Finnland blieb im 2014 mit 59,3 Prozent Schulden knapp unter dem Schuldenlimit von 60 Prozent.
Frankreichs Schuldenstand lag im vergangenen Jahr bei 95 Prozent.
Mit 177,1 Prozent ist Griechenland der absolute Schuldenspitzenreiter der Europäischen Union.
Auch Irland ist stark verschuldet. Hier liegt der Schuldenstand bei 109,7 Prozent.
Italiens Schuldenstand lag 2014 bei 132,1 Prozent.
Lettland bleibt mit 40 Prozent Schulden weit unter dem Limit.
Auch Litauen ist glücklicherweise noch weit entfernt vom Limit. 2014 lag die Verschuldung bei 40,9 Prozent.
Lediglich 23,9 Prozent Schulden hatte Luxemburg 2014 zu verzeichnen.
68 Prozent des Staatshaushaltes von Malta steckte 2014 in Schulden. Damit hat auch der südeuropäische Inselstaat das Limit überschritten.
68,8 Prozent des niederländischen Haushaltes war 2014 verschuldet.
Mit 84,5 Prozent Schulden gehört Österreich zu den Ländern der EU, die deutlich über dem Schuldenlimit liegen.
Mit 130,2 Prozent ist Portugal neben Griechenland das am stärkten verschuldete Land in der EU.
Die Slowakei blieb 2014 knapp unter dem Schuldenlimit mit 53,6 Prozent.
Sloweniens Staatshaushalt dagegen lag mit 80,9 Prozent Verschuldung deutlich über dem Limit von 60 Prozent.
Spanien bewegte sich mit 97,7 Prozent 2014 gefährlich auf die 100 Prozent-Marke zu.
Zypern ist neben Griechenland und Irland am stärksten verschuldet. Der Stand lag hier 2014 bei 107,5 Prozent.
Dieser Schuldenerlass mag in Deutschland in Vergessenheit geraten sein. Im Ausland ist das allerdings weniger der Fall. Prominente Ökonomen weisen immer wieder darauf hin, dass Deutschland im Glashaus sitzt.
Und das ist nicht alles. Spulen wir zurück bis in die Dreißigerjahre. Das Dritte Reich kam wirtschaftlich ebenso rasch wieder auf die Füße wie die Bundesrepublik in den Fünfzigerjahren – der Begriff des Wirtschaftswunders wurde schon damals geprägt und erst nach dem Zweiten Weltkrieg neu für die Nachkriegszeit verwendet. Am Anfang dieses Wiederaufschwungs stand ein doppelter Schuldenschnitt, die Streichung der Reparationen im Jahr 1932 und die einseitige, von den Westmächten weitgehend hingenommene Aufkündigung der deutschen Auslandsschulden im Jahr 1933.
Schlimmer noch. Vor den Schuldenschnitten standen drei Jahre Austeritätspolitik unter der Fuchtel einer Troika von Zentralbanken aus England, Frankreich und den USA. Wie heute Griechenland, so damals Deutschland. Wie Papademos und Simitis, so damals Heinrich Brüning. Die Ergebnisse gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Mit Blick auf die deutsche Katastrophe entwickelte Keynes damals seine Lehre von den schädlichen Wirkungen der Sparpolitik. Es sind heute die prominentesten Vertreter des Keynesianismus, die den Schaden anprangern, den die Austeritätspolitik in Griechenland angerichtet hat.
Marx und Engels haben einmal geschrieben, alles in der Geschichte passiere zweimal. Erst als Tragödie, dann als Farce. Tragisch war die Schuldenkrise in Deutschland, zuletzt brachte sie Adolf Hitler an die Macht. Die griechische Schuldenkrise ist gleichsam ihre Wiederholung, ausgerechnet mit Deutschland als dem Hauptgläubiger. Zum Glück hat sie diesmal nur eine Volksfrontregierung an die Macht gebracht.