Handelsblatt Clubgespräch Ziemlich schwierige Freundschaft

Deutschland und Frankreich sind die wichtigsten Triebkräfte der EU, verstehen sich aber nicht. Das sagt Frankreich-Kenner Ulrich Wickert im Handelsblatt Wirtschaftsclub. Dort erklärt er, warum Franzosen Merkel schätzen.

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Ulrich Wickert und Thomas Tuma, stellvertretender Chefredakteur des Handelsblatts, in Hamburg: Der Autor, Journalist und Frankreich-Experte Wickert sprach über die schwierigen deutsch-französischen Beziehungen. Quelle: Johannes Arlt für Handelsblatt

Hamburg Schon ziemlich früh an diesem Abend wird klar, dass die Sache mit den deutsch-französischen Beziehungen nicht so einfach ist. „Ich habe das Gefühl, dass es in Europa kaum zwei Völker gibt, die sich weniger verstehen als Deutsche und Franzosen“, sagt Ulrich Wickert. Der Autor und Journalist, der von 1991 bis 2006 im Ersten die „Tagesthemen“ moderierte, weiß, wovon er spricht. Bereits als Jugendlicher zog er 1956 nach Paris. Sein Vater arbeitete damals als Referent für die deutsche Vertretung bei der Nato, die seinerzeit ihre Zentrale noch an der Seine hatte.

Die Verbindung nach Frankreich riss nie ab: Von 1984 bis 1991 leitete er das ARD-Studio Paris. Für seine Verdienste um die deutsch-französische Freundschaft wurde er 2005 zum Offizier der französischen Ehrenlegion ernannt. Heute gilt Wickert als der deutsche Frankreich-Experte. Und als solcher sitzt er nun im Hamburger Braugasthaus „Altes Mädchen“. Im Rahmen des Handelsblatt Wirtschaftsclubs spricht er mit Thomas Tuma, dem stellvertretenden Chefredakteur des Handelsblatt, über „Europa zwischen Vision, Wirklichkeit und Wahnsinn“.

Deutschland und Frankreich, daran hat der 73-Jährige keinerlei Zweifel, sind die wichtigsten Triebkräfte eines vereinigten Europas. „Die Achse Berlin-Paris ist essentiell für Europa“, sagt er. Und dann folgt ein Churchill-Zitat: „Wenn Deutsche und Franzosen nicht funktionieren, funktioniert auch Europa nicht.“

Aber wie kann Europa funktionieren, wenn Deutsche und Franzosen sich laut Wickert nicht verstehen? Wickert verweist auf persönliche Begegnungen, wie sie im Rahmen des deutsch-französischen Bildungswerkes, aber auch durch Städtepartnerschaften ermöglicht werden. Und auch auf Regierungsebene sei ein guter persönlicher Draht nützlich. Der Journalist bekam aus nächster Nähe mit, wie sich Gerhard Schröder und Jacques Chirac, die sich zunächst kaum etwas zu sagen hatten, einander annäherten. Auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und sein französischer Amtskollege Michel Sapin verstünden sich gut.

Angela Merkel würden die Franzosen schätzen. „Sie haben sie in der Flüchtlingskrise für ihren Satz „Wir schaffen das“ bewundert“, sagt Wickert. „Das Magazin ,Le Point‘ hat sogar getitelt ,Warum ist sie keine Französin?‘“ Auf Nachfrage räumt er aber ein, dass die Kanzlerin für diesen Satz in Frankreich kaum gewählt worden wäre. Die Flüchtlingspolitik der Grande Nation ist vergleichsweise restriktiv. Gerade mal 30.000 Schutzsuchende hat Frankreich aufgenommen.


Von Arroganz und Musterknaben

Dennoch hält es Wickert für „arrogant“, dass sich manche Deutsche den Franzosen in diesem Punkt moralisch überlegen fühlen. „Vor der Zuspitzung der Krise im August 2015 haben wir auch kaum Flüchtlinge aufgenommen“, sagt er „Wir sind da keine Musterknaben.“ Die Franzosen ihrerseits hätten in den 70er-Jahren viele Flüchtlinge aus Indochina ins Land gelassen.

Der ehemalige „Tagesthemen“-Moderator ist sich bewusst, dass die Flüchtlingskrise Europa vor eine Zerreißprobe stellt. Er glaubt aber, dass dieses Problem gelöst werden könne. „Man muss ein Kerneuropa schaffen, das vorangeht.“ Wickert denkt dabei an etwa fünf bis sechs Staaten. „Die anderen müssen dann entscheiden, ob sie mitgehen.“

Er ist sich sicher, dass eine Mehrheit der Franzosen nach wie vor an die europäische Idee glaubt. „Es gibt trotz der Front National keine Anti-Europa-Stimmung“, sagt Wickert. Dass die Partei den nächsten französischen Präsidenten stellt, hält er für so gut wie ausgeschlossen: „Wenn sich Konservative und Linke zusammentun, haben sie eine Mehrheit gegen die Front National. Dessen Vorsitzende Marine Le Pen wird deshalb nie die Chance haben, Präsidentin zu werden.“

Das Erstarken der Rechtspopulisten in Frankreich führt Wickert auf „eine große Verzweiflung angesichts des Versagens der politischen Klasse“ zurück. Er selbst ist der Ansicht, dass wichtige Reformen jahrelang verschleppt wurden. Es sei vernünftig, dass der neue Wirtschaftsminister Emmanuel Macron nun überholte Arbeitsrechtsvorschriften wie die 35-Stunden-Woche aufweiche. Das hat im Land allerdings zu Massenprotesten und Streiks geführt. Dafür hat Wickert kein Verständnis. Die Protestierenden und Streikenden seien „reaktionär“. Sie wollten „nur zurück“ und hätten „Angst vor dem Risiko“.

Auch in Deutschland könne es zu einem Reformstau kommen. Dass Angela Merkel schon fast elf Jahre im Amt ist, sei nicht unproblematisch: „Irgendwann fehlt ihr und ihren Leuten die Fantasie, was man anders machen könnte“, so Wickert. Ausgerechnet der Bundesfinanzminister, mit 73 Jahren der Kabinettssenior, ist für Wickert so etwas wie ein Hoffnungsträger: „Schäuble könnte Impulse für etwas Neues geben.“

Es sind ernste Probleme, die an diesem Abend verhandelt werden. Doch weil Wickert sie mit großer Zuversicht angeht, überträgt sich seine gelassene Stimmung auch auf das Publikum. Und so ist es keineswegs unangemessen, dass sich der Grandseigneur des deutschen TV-Journalismus von seinen Zuhörern so verabschiedet, wie er es einst als Moderator der „Tagesthemen“ tat: Er wünscht ihnen „einen angenehmen Abend und eine geruhsame Nacht“.

Das vollständige Interview mit Ulrich Wickert lesen Sie in unserer Wochenendausgabe.

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