Er war nicht von Fehlern frei – welcher Politiker wäre das? – aber eines zeichnete ihn vor allen anderen aus: Hans-Dietrich Genscher war absolut uneitel.
Und so ist er auch gegangen. Vor ein paar Tagen las man, dass er bettlägerig war. Nun ist er gestorben, beinahe leise.
Hans-Dietrich Genscher war nie ein Meister des großspurigen Auftritts. Man muss sich nur an die Szene auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag im Herbst 1989 erinnern.
Mit sachlich fester, scheinbar unbewegter Stimme kündigte er den DDR-Flüchtlingen ihre Ausreise, ihre Freiheit an – das Ende seines Satzes ging in lautem Jubel unter.
Er war immer ein Freund der leisen Töne. Aber auch der diffusen.
Als seine Partei, die FDP, die Polit-Ehe mit der Union 1982 kündigte, ließ er die Anderen tönen – insbesondere Otto Graf Lambsdorff. Die zurückhaltende, nie rüpelnde, nie triumphierende Art seines Auftritts hat ihm viel allgemeine Bewunderung, aber auch viel Kritik eingetragen - insbesondere in den Reihen seiner eigenen Parteifreunde.
Aber im Ergebnis war Hans-Dietrich Genscher immer bei den Siegern.
Stationen in Genschers politischer Karriere
Als dienstältester Außenminister prägte FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher die deutsche und europäische Nachkriegspolitik entscheidend mit. Dank seines geschickten Taktierens wurde „Genscherismus“ zum feststehenden Begriff für die Kunst, sich nicht festzulegen. Die wichtigsten Stationen:
Hans-Dietrich Genscher wird in Reideburg/Saalkreis geboren. Nach Kriegsdienst und Ergänzungsabitur nimmt Genscher 1949 sein Jura-Studium auf.
Eintritt in die FDP
Nach der Bundestagswahl ist Genscher maßgeblich an der Bildung einer sozialliberalen Koalition beteiligt und wird im Oktober als Innenminister in das Kabinett von Willy Brandt (SPD) berufen.
Bei der Geiselnahme jüdischer Sportler während der Olympischen Spiele in München bietet sich Genscher als Austauschgeisel an, das wird aber von den palästinensischen Terroristen abgelehnt. Den tödlichen Ausgang des Dramas sieht Genscher als persönliche Niederlage und bietet seine Rücktritt an.
Während der Spionage-Affäre um Günter Guillaume gerät auch Genscher als oberster Dienstherr des Verfassungsschutzes unter Druck. Nach dem Rücktritt Brandts übernimmt er den Posten des Außenministers und Vizekanzlers unter Helmut Schmidt (SPD). Genscher löst zudem Walter Scheel als Vorsitzenden der FDP ab.
Austritt der FDP-Mitglieder aus dem Kabinett Schmidt. Genscher unterstützt, gegen den linksliberalen Flügel seiner Partei, Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU und setzt sich für das konstruktive Misstrauensvotum gegen Schmidt ein.
Nach der Wahl von Helmut Kohl (CDU) zum Bundeskanzler behält Genscher seine bisherigen Ämter. Zu seinen Zielen zählen die Weiterführung der Entspannungspolitik und des Ost-West-Dialogs mit der sich wandelnden UdSSR sowie das Zusammenwachsen Europas.
Wegen Kritik an seinem Führungsstil gibt Genscher sein Amt als FDP-Parteivorsitzender an Martin Bangemann ab.
Auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag sagt Genscher: „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nacht ihre Ausreise...“. Das Satzende geht im Jubel Tausender DDR-Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände unter. Später sieht Genscher diesen Moment als Höhepunkt seiner politischen Tätigkeit.
Historisches Treffen von Kanzler Kohl und dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow im Kaukasus. Im Beisein von Genscher gelingt der Durchbruch auf dem Weg zur deutschen Einheit.
Deutschland ist Ende Dezember das erste EG-Land, das Slowenien und Kroatien - wo man Genscher als Volkshelden und „Geburtshelfer“ der Souveränität feiert - anerkennt. Kritiker werfen der Bundesrepublik vor, den Balkankonflikt damit angeheizt und das Ende Jugoslawiens besiegelt zu haben.
Der Vizekanzler und dienstälteste Außenminister tritt auf eigenen Wunsch von seinen Ämtern zurück und wird zum Ehrenvorsitzenden der FDP ernannt.
Genscher scheidet nach 33 Jahren aus dem Bundestag aus.
Ein Erlebnis mit ihm wird mir immer in Erinnerung bleiben: Im Wahlkampf für die DDR-Volkskammer im Frühjahr 1990 stand er auf dem Balkon des Rathauses in Halle und ließ die Blicke über seine Heimatstadt streichen. Die Mauer war gefallen, die Einheit greifbar nah. Dann drehte er sich zu mir um und sagte sichtlich bewegt: „Das habe ich nicht einmal zu träumen gewagt.“
Im persönlichen Umgang mit politischen Partnern kannte er aber auch durchaus starke Gesten. Als in Moskau der sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl die deutsche Einheit verhandelten und anschließend die Außenminister Eduard Schewardnadse und Genscher vor die warteten Journalisten traten, da drückten sich beide fest die Hände – unter dem Tisch, was die mitgereisten Journalisten nicht entdeckten.
In diesen Momenten war Hans-Dietrich Genscher so etwas wie ein Antipode des Bundeskanzlers, der sich auf öffentliche Rührung und Symbolpolitik verstand. Genschers Sache war das nicht. Er beglückwünschte sich lieber still und heimlich –im Wissen um das Glück und die Gunst der Stunde, die er zu nutzen wusste.