Harry Gatterer über arbeitende Rentner „Keiner will sein halbes Leben nur zu Hause hocken“

Immer mehr Menschen arbeiten im Rentenalter weiter. Trend- und Zukunftsforscher Harry Gatterer weiß, warum elf Prozent im Alter zwischen 65 und 74 Jahren erwerbstätig sind.

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Ein älterer Herr am Telefon Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Die Zahl der Menschen, die auch jenseits des Rentenalters noch arbeiten, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Woher kommt der Trend?
Harry Gatterer: Der Trend geht einher mit der Alterung der Gesellschaft. Menschen im Alter wollen wirksam sein, etwas beitragen, in Kontakt sein, sich beschäftigen. Jedes zweite Baby, dass heute auf die Welt kommt hat die Chance 100 Jahre alt zu werden. Der Trend wird sich unweigerlich fortsetzen, weil wir immer länger leben. Keiner will sein halbes Leben lang nur zu Hause hocken. Der nachhaltige Effekt wird sein, dass sich die Gesamtvitalität in der Gesellschaft erhöht. Die Welt war noch nie so reich an Erfahrung wie heute. Die Wirtschaft und Gesellschaft braucht diese „Weisheit der Alten“.

Zur Person

Für 37% der Erwerbstätigen ist die Arbeit die wichtigste Quelle des Lebensunterhaltes. Was treibt die anderen 63% an?
Hier geht’s um soziale Kontakte, ein ausgefülltes Leben, Freude an der Tätigkeit. Das sind alles Punkte, die wir stark mit Arbeit verbinden - sowohl mit Erwerbs- als auch freiwilliger Arbeit. Und das hat weder was mit „Selbstverwirklichung“ noch mit „Not“ zu tun. Beides mag auf bestimmte Gruppen ohne Zweifel zu treffen. Aber in der Mitte befindet sich die große Masse, die einfach tätig sein will und auch Freude daran hat. Das sorgt dafür, dass sie den Anschluss an die Gesellschaft erhalten. 

Was bedeutet das für die Firmen?
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind heute auf die erste Lebenshälfte fixiert. Wie im Leistungssport, in dem kaum ein Profi über vierzig Jahre alt ist. Nur die Trainer sind älter. Was aber, wenn wir mehr Trainer als Spieler haben? Wenn wir uns im Alter nur an der Jugend orientieren, verleugnen wir aber die Qualitäten der zweiten Lebenshälfte. Das kann sich die Wirtschaft schlichtweg nicht leisten. Für den Arbeitsmarkt ergibt sich ein großes Potenzial an erfahrenen und vor allem gelasseneren Mitarbeitern.

Was kann die Gesellschaft tun?
Die heute und künftig Älteren stehen vor der Frage, wie sie die dreißig "Extra-Jahre", die sie im Vergleich zum Anfang des vorigen Jahrhunderts besitzen, gestalten und finanzieren. Und die Jüngeren müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sie ein Leben managen, das nicht mehr den linearen biografischen Mustern ihrer Eltern folgt. Beide, Ältere wie Jüngere, werden eine andere Art von Unterstützung und Beratung nachfragen, als sie derzeit die gesetzliche Rentenversicherung und die privaten Versicherungs- und Finanzinstitute anbieten. Warum betrachten wir die Alterungsgesellschaft also nicht als Möglichkeitsraum einer neuen Zeit- und Lebenspolitik?

Sollte die Politik Beschäftigungsverhältnisse im Rentenalter noch weiter forcieren?
Warum entindustrialisieren wir die Arbeitswelt nicht, machen sie weniger monoton und stattdessen flexibel – und lassen so das Erfahrungswissen der Älteren zu?  Warum schaffen wir die Altersgrenze hin zur Rentenzeit nicht ab, statt sie – je nach politischer Konstellation – mal anzuheben oder zu verkürzen? Das Thema wäre dann eine „neue Lebenslaufpolitik“ wie das einmal der frühere Bundespräsident Joachim gefordert hat. In einer zunehmend selbstbestimmten Gesellschaft verfügen die Menschen nicht erst nach, sondern mitten im klassischen Erwerbsleben über mehr Zeitsouveränität. In der stressigen Phase des Lebens zwischen dreißig und fünfzig Jahren, in der es um Familiengründung und beruflichen Aufstieg, geht, braucht es immer wieder eine Entzerrung der Lebensphasen.

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