Hartz IV Die irrsinnige Armuts-Bürokratie

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Heinrich Alt Quelle: dpa

Wenig später beschloss die große Koalition, ein Schulstarterpaket für Hartz-IV-Kinder einzuführen. In Bremen wirbt der Senat dafür, auf Antrag auch die Pille für Hartz-IV-Empfängerinnen zu bezahlen. Getrennt lebende Väter wiederum können ihre Bahntickets für Reisen zu den Kindern einreichen, das legte in Berlin erst die Regierung Merkel fest. Auch die Kosten für orthopädisches Schuhwerk werden seit 2010 vom Jobcenter übernommen, die Ausgaben für normale Schuhe allerdings nicht. Seither ist die Zahl der Fußkranken rasant gestiegen, die Stapel der Anträge in der Verwaltung allerdings auch.

Es sei ein Trugschluss gewesen, zu glauben, die Hartz-IV-Reform hätte das System einfacher gemacht, sagt ein Fallmanager im Jobcenter Gelsenkirchen. Wenn er alle Anträge und Profile seiner Kunden in den Computer getippt habe, dann bleibe keine Zeit mehr, nach Jobs zu suchen. Aus einem Drucker im Büro nebenan rattert ein Leistungsbescheid. Sechs Seiten umfasst der, ein ganz normaler Fall. Komplexere Fälle brauchen schon mal 20 Blätter.

Wann immer Heinrich Alt sich aus seinem Büro in der Nürnberger BA-Zentrale auf den Weg nach Berlin macht, steckt er eine Tabelle mit Vorschlägen ein, wie das überfrachtete Hartz-IV-System etwas einfacher werden könnte. Wer die Auflistung liest, steigt tief hinab in die Absurditäten des Sozialstaates. Da wäre zum Beispiel die „Anzeige- und Bescheinigungspflicht bei Arbeitsunfähigkeit für Kunden, die nicht in die Integrationsarbeit einbezogen sind“, wie es in schönstem Amtsdeutsch heißt. Oder kurz: Die Tatsache, dass schulpflichtige Kinder von Hartz-IV-Empfängern eine ärztliche Krankmeldung im Jobcenter abgeben müssen, wenn sie die Grippe haben. So will es das Gesetz.

Ein paar Punkte allerdings konnte Alt in den vergangenen Wochen von seiner Liste streichen: dass Hartz-IV-Empfänger sofort die gesetzliche Krankenkasse wechseln müssen, sobald die einen Zusatzbeitrag erhebt. Gesundheitspolitiker hatten befürchtet, dass die Langzeitarbeitslosen in diesem Jahr so vermutlich alle zwei Monate ihre Versicherung hätten kündigen müssen. Für die Zusatzbeiträge steht jetzt die BA mit einer Pauschale ein.

Auch bei den Unterkunftskosten steuert die Politik nach. Hartz-IV-Empfängern steht ein „angemessener Wohnraum“ zu, heißt es im Gesetz. Wie viele Quadratmeter aber „angemessen“ sind und was diese kosten dürfen, darüber schweigen die Paragrafen. Um die flaue Vorgabe für ihre Beamten zu interpretieren, brauchte die Berliner Senatsverwaltung in ihrer „Ausführungsverordnung Wohnen“ 16 eng beschriebene DIN-A4-Seiten. Künftig jedoch dürfen die Kommunen in eigenen Verordnungen Pauschalen festlegen. Auch das gehört zur neuesten Reform.

Dumm nur, dass von Bürokratieabbau im Vermittlungsverfahren ansonsten wenig die Rede ist. Im Gegenteil. Bundesweit gruselt es die Praktiker vor allem vor den Tücken des gut gemeinten Bildungspaketes. Jedes Kind von Hartz-IV-Empfängern soll künftig einen Anspruch auf Förderung haben: Der Staat beteiligt sich am Essen in der Schule oder Kita, er sponsert Nachhilfeunterricht, Klassenfahrten und Flötenkurse. Für jedes Kind sind ein paar Euro mehr im Monat drin. Der Verwaltungsaufwand indes verschlingt Millionen.

Vertrag für Elftklässler

720 Millionen Euro soll das Paket nach den ersten Planungen des Ministeriums insgesamt kosten. Und es fügt sich in die Tradition des Hartz-Systems: Fast 140 Millionen Euro davon würde der bürokratische Aufwand verschlingen. Schon im Herbst polterte ein Experte des Bundesrechnungshofs in einer Anhörung vor dem Sozialausschuss, die Kosten stünden „in keinem angemessenen Verhältnis“ zum Wert der Leistungen. Die Wohlfahrtsverbände sahen das übrigens genauso.

Dass ein Hartz-IV-Bildungspaket im föderalen Staat nur schwer funktionieren kann, verrät schon sein Name. Hartz IV ist Sache des Bundes, über die Bildung wachen die Länder. Kooperation ist von Amts wegen nicht vorgesehen. Jedoch hatte das Arbeitsministerium zunächst die Jobcenter dazu verdonnert, die neuen Gutscheine auszugeben. Sie müssten dazu mit Sportvereinen, Kindergärten und Schulen Vereinbarungen schließen, wie die Leistungen abgerechnet werden sollen. Wohlgemerkt: mit allen 90.000 Sportvereinen, 50.000 Kindergärten und 35.000 Schulen. Musikschulen noch gar nicht mitgezählt, Nachhilfelehrer auch nicht.

Auch jeder Elftklässler, der dem Nachbarsjungen für ein paar Euro bei den Matheaufgaben helfen will, muss vorher einen Vertrag mit dem Amt schließen. Sachbearbeiter, die ihr Berufsleben lang Leistungsbescheide gebastelt haben, sollen ganz nebenbei auch überprüfen, ob ein Nachhilfeanbieter sich auf dem Boden der „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ bewegt. So zumindest steht es in der offiziellen Geschäftsanweisung der BA mit dem Aktenzeichen II-8400/3317.

Die Verwirrung, die das auslöst, kann man an einem Dezembermorgen im Rathaus Berlin-Neukölln besichtigen. Drei Dutzend Leiter von Berliner Kindertagesstätten quetschen sich auf die Sitze des Abgeordnetensaals, um sich das Bildungspaket erklären zu lassen. Nur so viel sei gesagt: Dafür braucht man ziemlich lang. Seit zwei Stunden schon hetzen die Experten des Jobcenters mit einer PowerPoint-Präsentation durch die Paragrafen. Und noch immer blicken die Teilnehmer im Saal einigermaßen ratlos.

In der vorletzten Reihe etwa reckt Margit Klengel ihren Arm in die Luft. Sie ist Regionalleiterin des gemeinnützigen Jugend- und Sozialwerkes, das in Berlin 27 Kindertagesstätten betreibt. Bisher konnten ihr die Hartz-Gesetze ziemlich egal sein. Weil ihre Kindergärten aber auch ein warmes Mittagessen anbieten, muss sie nun Verträge mit den Ämtern schließen. Irgendwann ist auch sie mit ihrer Frage an der Reihe. „Kann man das nicht einfacher organisieren?“, stöhnt sie. „Das ist doch ein gräulicher Verwaltungsaufwand.“

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