Hartz IV Die irrsinnige Armuts-Bürokratie

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Ursula von der Leyen (links), Manuela Schwesig Quelle: LAIF/Polaris

Die Antwort fällt erwartungsgemäß nüchtern aus. „Ob wir schimpfen oder nicht, ob wir glauben, dass man das gar nicht umsetzen kann oder nicht – da müssen wir jetzt durch“, sagt Konrad Tack, Geschäftsführer des Jobcenters. Um alle Gutscheine an die Kinder ausgeben zu können, bräuchte er 13 neue Mitarbeiter, wie er neulich ausgerechnet hat.

Im ganzen Bundesgebiet müssten die Jobcenter 1300 neue Stellen schaffen, um das Bildungspaket einigermaßen unfallfrei umsetzen zu können. So ganz geheuer ist das auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, CDU, und Mecklenburg-Vorpommerns Sozialministerin Manuela Schwesig, SPD, nicht, den beiden Verhandlungsführerinnen im Vermittlungsverfahren. Deshalb prüfen sie derzeit, ob es nicht einfacher wäre, die Abwicklung des Bildungspaketes direkt den Kommunen zu übertragen.

Allerdings würde auch das zu einer Bürokratieflut führen. Aus Gründen des Datenschutzes dürften die Jobcenter ihre sensiblen Kundenakten nicht einfach weiterreichen, sondern müssten von jeder ein bereinigtes Duplikat anlegen. Macht bei 2,3 Millionen Kindern in Hartz IV also Millionen neue Akten.

Tatsächlich gibt auch Ursula von der Leyen zu, dass es eine „enorme logistische Herausforderung“ sei, das Bildungspaket zu den Kindern zu bringen. „Aber eine, die sich lohnt.“ Praktiker sind da anderer Ansicht. Zum Mittagstisch in Kitas und Schulen etwa müssen Kinder aus Hartz-IV-Familien künftig nur einen Euro hinzuzahlen, den Rest übernimmt Vater Staat. In Kommunen wie Berlin ändert sich für die Leistungsempfänger aber nichts. Dort bezuschusst der Senat ohnehin jedes Schul-essen. Diese Ausgabe kann sich die chronisch klamme Hauptstadt nun sparen. Schließlich zahlt künftig der Bund.

Auch die Musikschulen sind skeptisch, ob das aufwendige Bildungspaket einen großen Boom beim Musikunterricht auslöst. Bis zu zehn Euro soll jedes Hartz-IV-Kind pro Monat dafür bekommen. Ein Wert, über den gestandene Pädagogen müde lächeln. „Damit kommt man nicht weit“, sagt Udo Krzyzynski, Leiter der Musikschule in Berlin-Mitte. Hier kostet eine halbe Stunde wöchentlicher Einzelunterricht auf den Monat gerechnet 40 Euro, für Hartz-IV-Empfänger immerhin noch 20 Euro. Es wäre einfacher gewesen, die Musikkurse direkt an die normalen Schulen zu bringen, sagt Krzyzynski. Damit würde man mehr Kinder erreichen.

Vorbeugende Klagen

Couch Quelle: Getty Images

Arbeitsloseninitiativen und Gewerkschaften gehen einen konkreteren Weg der Kritik. Sie haben die Hartz-IV-Empfänger aufgefordert, Widerspruch gegen die Leistungsbescheide des neuen Jahres einzulegen. Schließlich hätte die Reform eigentlich schon im Januar in Kraft treten sollen, hätten Union und SPD sich nur ein wenig schneller geeinigt. Im ganzen Land rechnen die Richter mit einer Klagewelle.

An einem ganz normalen Dienstagvormittag türmen sich in der Posteingangsstelle des Berliner Sozialgerichtes die Akten zu hüfthohen Stapeln. Sieben Regalmeter an Klageschriften hat die Post seit halb sieben in der Früh angeliefert. Jetzt ist es kurz vor zwölf. „Ich mache den Job schon seit 20 Jahren. So viel Arbeit gab es früher nie“, sagt Justizhauptwachtmeister Lutz Ottenberg. In der Ära vor Hartz IV reichten zwei Kollegen, um die Postsäcke zu sortieren. Inzwischen sind es vier.

Im vergangenen Jahr reichten die Hartz-IV-Empfänger allein in der Hauptstadt 32.000 neue Klagen ein, ein neuer Rekord. Um den Berg unerledigter Klagen abzubauen, „müssten wir für ein ganzes Jahr schließen“, sagt Gerichtspräsidentin Sabine Schudoma. Allerdings gebe es bei den Hartz-IV-Verfahren eine Besonderheit: Jeder zweite Kläger bekommt sogar recht. Die Materie ist inzwischen so komplex geworden, dass sie kaum noch jemand versteht. Auch in den Jobcentern nicht.

Irgendwann in diesem Jahr werden sich die Sozialrichter vermutlich auch mit dem Winterreifen-Dilemma beschäftigen müssen. In den Jobcentern haben sich die ersten Arbeitsuchenden gemeldet und um Kostenübernahme gebeten.

Sie dringen auf einen Härtefall. In dieser Woche soll es wieder schneien. 

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