Hartz IV Die irrsinnige Armuts-Bürokratie

Mit ständigen Korrekturen überfordert die Politik das Hartz-IV System. Längst verschlingen die Verwaltungskosten Milliarden. Und sie steigen weiter, dafür sorgt schon das Bildungspaket. Einsichten in die Hartz-Maschinerie von WirtschaftsWoche-Reporterin Cornelia Schmergal.

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Musikunterricht Quelle: LAIF/Christian Jungeblodt

Es grenzt an ein Wunder, dass noch niemand auf die Sache mit den Winterreifen gekommen ist. In der Chefetage der Bundesagentur für Arbeit (BA) hätten sie beinahe Wetten darauf abgeschlossen. Heimlich natürlich, über so was spricht man ja nicht laut. Man könnte die Damen und Herren Abgeordneten ja auf dumme Ideen bringen.

Seit Dezember gilt Winterreifenpflicht im Lande. Für alle Autos, auch für die von Hartz-IV-Empfängern. „Ich rechne täglich damit, dass irgendjemand die Forderung aufstellt, der Staat müsse die Kosten für die Winterreifen von Hartz-IV-Empfängern übernehmen“, frotzelt BA-Vorstandsmitglied Heinrich Alt. Wegen der unzumutbaren Härte, der letzten starken Schneefälle. Oder weil die Arbeitsuche auf Sommerreifen den allgemeinen Straßenverkehr bedrohen könnte. Irgendeinen Grund werden gestandene Sozialpolitiker schon finden. Irgendein Grund für einen Sonderbedarf, einen Mehraufwand oder eine Härtefallklausel findet sich nämlich immer.

Vermutlich ist Heinrich Alt inzwischen etwas abgeklärt. Seit zehn Jahren schon sitzt er im engsten Führungsgremium der größten deutschen Behörde, die früher noch Anstalt hieß, und kümmert sich hier um das Arbeitslosengeld II. Der 60-Jährige war selber einmal Staatssekretär, mit politischen Prozessen kennt er sich also aus. Und aus dieser Sicht kann man es als echtes Wunder werten, dass an der Winterreifenfront noch Ruhe herrscht.

Dafür allerdings haben sich die Sozialpolitiker längst auf ein anderes Objekt gestürzt: die weiße Ware. Derzeit verhandeln die Bundes- und Landespolitiker im Vermittlungsausschuss darüber, ob Vater Staat den Hartz-IV-Empfängern künftig das Geld für eine Waschmaschine oder einen Herd erstatten solle. Dazu müssten die Beamten im Berliner Arbeitsministerium nur ein wenig an den Hartz-Gesetzen schrauben und eine neue Verordnung schreiben. Sie haben Erfahrung darin. Es wäre die 51. Reform in sechs Jahren.

Bürokratischer Moloch

Ausgaben von Bund und Kommunen für Hartz-IV-Leistungen und Kosten der dafür nötigen Verwaltung

Jede Änderung und jede Ausnahme allerdings, seien sie auch noch so winzig, setzen in der Welt des Heinrich Alt einen bürokratischen Moloch in Bewegung, eine Kette von umformulierten Geschäftsanweisungen, Kundeninformationen, Antragsformularen, Eingangsbestätigungen, Leistungsbescheiden, Widersprüchen und am Ende vermutlich sogar Klagen. Hartz IV schafft jede Menge Arbeit. Zumindest in den Jobcentern.

Den Vermittlern bleibt dabei kaum noch Zeit für das Wesentliche. „Unsere Kernaufgabe ist es, die Menschen wieder in eine existenzsichernde Beschäftigung zu bringen. Wir müssen darauf achten, dass uns diese Aufgabe nicht aus dem Blick gerät“, mahnt Alt. Die Kollegen vor Ort formulieren es etwas drastischer: „Ich arbeite in Absurdistan“, stöhnt die Teamleiterin eines Berliner Jobcenters.

Als die Reform vor sechs Jahren startete, kümmerten sich in den Arbeitsgemeinschaften von Bundesagentur und Kommunen rund 44 200 Beschäftigte um die Leistungsempfänger. Inzwischen ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen gesunken, aber die der Bürokraten auf 65.500 gestiegen. 46,4 Milliarden Euro brachten die Steuerzahler im vergangenen Jahr für Hartz IV auf. Die Verwaltung verschlang beinahe fünf Milliarden Euro davon (siehe Grafik). Mit dieser Summe könnte man auch den Solidaritätszuschlag halbieren.

Dabei sollte die mutigste aller Reformen den Sozialstaat verschlanken. Noch zu Zeiten der alten Stütze mussten Hilfeempfänger für jede größere Anschaffung einen Antrag stellen. Manchmal auch für jede kleinere. Es soll Kundinnen gegeben haben, die für das Recht auf einen zweiten Wintermantel oder einen dritten Büstenhalter vor Gericht stritten. Als die rot-grüne Koalition im Jahr 2005 dann Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegte, fusionierte sie alle Leistungen zu einem einheitlichen Regelsatz. Zusätzlich sollte das Jobcenter auch die Kosten für Miete und Heizung tragen. An mehr war nie gedacht.

Bröckelnde Pauschale

Die Idee klang bestechend: Jeder Hilfeempfänger sollte mehr Verantwortung übernehmen und weniger gegängelt werden. Doch so schlicht diese Pauschale war, so sehr verletzte sie das Gerechtigkeitsgefühl der Massen, die es gewohnt waren, dass sich der Staat schon um alles kümmern werde. Wenn man eine schlanke Verwaltung wolle, müsse man „eine gewisse Ungerechtigkeit aushalten können“, sagt Heinrich Alt.

Zwischen Rostock und Rosenheim kann man das offenbar nicht. Natürlich lebt niemand im Luxus mit Hartz IV, auch wenn der Regelsatz von anfangs 345 Euro nun auf mindestens 364 Euro angehoben werden soll. Von der schlichten Pauschale allerdings ist wenig geblieben. Schon 2005 hatte die rot-grüne Koalition festgelegt, dass der Staat auch die Kosten für Wiege und Wickeltisch übernimmt, wenn sich ein Baby ankündigt. Niemand hätte da widersprochen. Dass das Amt aber auch die erste Couch zahlte, wenn der pubertierende Sprössling das Hotel Mama verließ, und gar Miete und Lebensunterhalt übernahm, löste eine Umzugswelle bei den Teenagern aus. Das Sozialministerium hat die Klausel längst wieder kassiert.

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