Hartz IV Wenn Faulheit sich lohnt

WirtschaftsWoche-Chefreporter Dieter Schnaas über Arbeitspflicht und Sozialalarmismus, die Aushöhlung des Lohnabstandsgebots und Leistungsmissbrauch in der Bundeshartzstadt Berlin.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Arbeitslose Arbeiter: Wenn es um einen kleinen Zuverdienst geht, stehen Freiwillige oft Schlange, sei es zum Schneeschippen wie in Leipzig Quelle: dpa

Als Maxim Gorki in Russland vor mehr als 100 Jahren sein Drama „Nachtasyl“ schrieb, hatte man noch sehr bestimmte Vorstellungen von dem, was Arbeit, Menschenwürde, Elend und Armseligkeit bedeuten. „Ich will dir einen Rat geben“, sagt einer von Gorkis Schlafstellen-Streunern zum anderen, der gerade seinen Job verloren hat, sich nutzlos fühlt und in Grund und Boden schämt: „Tu gar nichts. Belaste die Erde mit deinem Gewicht... Lege sie ab, deine Scham! Haben die Leute vielleicht Scham darüber, dass du schlechter lebst als ein Hund?“

Heute, im modernen Sozialstaat, da hierzulande im Sinne Gorkis niemand mehr vor die Hunde geht, liegen die Dinge nicht mehr ganz so einfach: Warum zum Beispiel sind manche Arbeitslose so armselig, dass sie vor lauter Nichtstun ihre Würde aufs Spiel setzen? Warum dürfen sie mit dem Gewicht ihrer Faulheit nicht nur die Erde, sondern auch ihre arbeitenden Nachbarn belasten? Warum schämen sie sich nicht? Und warum erhalten sie dafür zuweilen mehr Geld und staatliche Zuwendung als der, der jeden Morgen die Ärmel aufkrempelt?

"Kein Recht auf Faulheit"

Es ist merkwürdig, dass man diese Fragen in Deutschland nicht stellen darf, oder genauer: dass der, der es dennoch tut, mit einem Sturm der politisch korrekten Entrüstung zu rechnen hat. So wie der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der die Deutschen darauf aufmerksam machte , dass es „kein Recht auf Faulheit“ gibt. Wie der damalige Parteivorsitzende Kurt Beck (SPD), der einem etwas derangierten Passanten riet, sich zu kämmen und zu waschen, um seine Aussicht auf eine Arbeitsstelle zu erhöhen. Oder wie der Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin (SPD), der uns zuletzt in Erinnerung rief, dass Berlin mehr als andere Städte unter „einer am normalen Wirtschaftskreislauf nicht teilnehmenden Unterschicht“ leide.

Die Reaktionen fielen stets rebellisch bis hysterisch aus. Natürlich schien Kurt Beck das Verständnis dafür zu fehlen, dass Langzeitarbeitslosigkeit für jeden von uns die Gefahr der Lebenszerstreuung und sukzessiven Verwahrlosung in sich birgt, dass sie wie schleichendes Gift unseren Willen zersetzt, morgens früh aufzustehen und die Nächte nicht vor dem Fernseher zu verbringen. Und natürlich war es dumm, dass Thilo Sarrazin seine Beobachtungen mit allerlei Abfälligkeiten gegen Ausländer disqualifizierte. Doch das erklärt noch lange nicht, warum in den anschließenden Debatten die Bereitschaft der wenigen, den Kern der zugespitzten Aussagen politisch fruchtbar zu machen in einem so krassen Missverhältnis zum Tatendrang der meisten stand, aufgrund von jeder verunglückten Formulierung sogleich Sozialalarm zu schlagen.

Koch will Sanktionen durchsetzen

Seit seinem Interview mit der WirtschaftsWoche vor acht Tagen steht nun der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) im Fokus der medial trainierten Gefahrenmelder: Die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Hannelore Kraft beschuldigte ihn, ein „Brandstifter“ zu sein, der Promi-Linke Bodo Ramelow wirft ihm vor, die „Menschenwürde mit Füßen“ zu treten. Dabei hat Koch nur gesagt, er wolle „jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, auch niederwertige Arbeit, im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung“. Die Politik, so Koch, müsse bei der Durchsetzung der Arbeitspflicht die „notwendige Härte“ aufbringen, „Sanktionen auch einzusetzen“. Im Übrigen sei der Staat aufgefordert, die Zuverdienstregeln für Bezieher von Arbeitslosengeld II zu lockern und „Hunderttausende“ von Jobs im Bereich der gemeinnützigen Arbeit zu schaffen.

Die Kritik an Kochs Äußerungen ließ nicht lange auf sich warten. Sie fiel verheerend aus – und sie ist in der Sache nur zu berechtigt. Arbeitspflicht? „Wir brauchen keinen Ministerpräsidenten, der das fordert, was im Gesetz steht“, sagt der CDU-Sozialexperte und NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann. Zuverdienstregeln lockern? Lohndumping droht – und die Gefahr einer Ausweitung des Hartz-IV-Universums um zwei Millionen Personen. Bürgerarbeit? „Die Handels- und Handwerkskammern werden sich bedanken“, sagt der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD): „Es gibt für fast jede öffentliche Dienstleistung Unternehmen, denen der Staat nicht durch die Förderung subventionierter Arbeit das Leben schwer machen sollte.“

Grafik: Hartz-IV-Empfänger in Deutschland und Berlin im Vergleich (Klicken Sie auf die Grafik für eine erweiterte Auswahl)

Der interessanteste Satz des Interviews ging in der pawlowschen Aufregung über die Lage, Rechte und Pflichten von Armen, Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern beinahe unter: nämlich das Eingeständnis Kochs, die Politik könne, werde und wolle künftig nicht mehr dafür sorgen, dass der, der arbeitet, am Ende des Tages mehr Geld zur Verfügung hat als der, der nicht arbeitet. „Das Lohnabstandsgebot kann nicht befriedigend erfüllt werden“, so Koch lapidar – ein Satz, mit dem er genau die „Leistung“ zu Grabe trägt, die sich angeblich wieder lohnen sollte. Im Grunde gesteht Koch damit das Scheitern einer parteiübergreifenden Politik ein, die in den vergangenen Jahren aus guten Gründen des internationalen Wettbewerbs den Niedriglohnsektor erschlossen hat – ohne jedoch zugleich dafür zu sorgen, dass die, die in ihm beschäftigt sind, durch ausreichend Anreize gegen jene verteidigt werden, die sich ihm verweigern.

Fleißge benötigen mehr Zuwendung des Staates

Das Signal, das Roland Koch an Niedriglöhner, Aufstocker, Hinzuverdiener und an die große Mehrheit der Arbeitslosen aussendet, die arbeiten wollen, ist verheerend: Hört zu, es ist, wie es ist – der Erfolg eurer Bemühungen wird sich finanziell nicht lohnen, aber wenn ihr euch trotzdem nicht weiter bemüht, müsst ihr Stiefmütterchen pflanzen, Graffiti beseitigen oder mit Sanktionen rechnen. Wenn man dem Koch-Vorstoß also überhaupt einen Sinn abgewinnen will, dann den, dass er nach einer neuen Diskussion über das Lohnabstandsgebot verlangt, über die Schnittstelle zwischen Sozialleistungen und Marktlöhnen – und über den Bruch, der im Hartz-IV-System Arbeitsuchende und Leistungsbetrüger trennt. Sollte das Bundesverfassungsgericht, wie erwartet, die Regierung im Februar auffordern, die Sozialleistungen heraufzusetzen, um Arbeitslosen mehr „gesellschaftliche Teilhabe“ zu ermöglichen, spitzt sich diese Debatte dramatisch zu: Die Zahl derer, die Vollzeit arbeiten und dennoch Leistungen aus der Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen (334.000), wird sprunghaft steigen.

Der Politik fällt daher die Aufgabe zu, beides zugleich deutlich zu machen: dass Fleißige mehr Geld und Zuwendung des Staates verdienen – und Faule seine Härte und Sanktionsbereitschaft. Insofern hat Koch recht, wenn er beide Gruppen akzentuiert: Einerseits die, „die durch die Unbilden des Lebens, völlig ohne eigene Schuld, in Not geraten sind. Denen möchte man Hartz IV eigentlich nicht zumuten“. Und andererseits die, „die mit dem System spielen und Nischen ausnutzen“.

Berliner Hartz-IV-Zahlen sind erschütternd

In Berlin treffen beide Gruppen frontal aufeinander; hier ist die Arbeitslosigkeit mit 21,6 Prozent (offen und verdeckt) genauso hoch wie die Chance auf ein leistungsloses Einkommen. Die nackten Zahlen sind erschütternd: Jeder sechste Berliner erhält Geld aus dem Hartz-IV-Topf, jeder fünfte eine Form von Transferleistung, jedes dritte Kind wächst in Familien auf, die Arbeitslosengeld II beziehen. 285 Millionen Euro wendet die Stadt monatlich auf, um die 590.000 Mitglieder umfassende Hartz-Gemeinde zu versorgen, die von 5500 Mitarbeitern in Jobcentern betreut und verwaltet wird. Vier von fünf Berlinern verweilen länger als zwölf Monate im Leistungsbezug; drei von vier leben in Bezirken wie in Nord-Neukölln unterhalb der Armutsgrenze (700 Euro), zwei von drei Heranwachsenden unter 25 Jahre beziehen dort Stütze.

Wie hoch der Anteil derer ist, die nicht ernsthaft an der Vermittlung einer Arbeit interessiert sind und Leistungen der Grundsicherung im Schatten der großstädtischen Anonymität ausnutzen, lässt sich schwer sagen. Die bundesweite Sanktionsquote liegt bei 2,6 Prozent. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement (ehemals SPD) sprach einmal von 20 Prozent. Ein Mitarbeiter in einem Berliner Jobcenter, hält 60 Prozent in Berlin für „keineswegs übertrieben“. Natürlich möchte er seinen Namen nicht veröffentlicht wissen. Aber schweigen darüber, was er mit seiner Kundschaft erlebt, möchte er auch nicht. Und schildert die gängigsten Betrügereien:

Schwarzarbeit: Der Kunde lässt sich als 400-Euro-Jobber einstellen, arbeitet aber in Wirklichkeit eine volle Schicht. Auf diese Weise kassiert er doppelt: sein Schwarzgeld und sein Hartz-IV-Gehalt.Mietbetrug I: Ein Paar gibt vor, sich zu trennen, erhebt Anspruch auf je eine Wohnung. In Wirklichkeit leben beide weiterhin zusammen – und vermieten die andere Wohnung, etwa als Feriendomizil.Mietbetrug II: Die bar ausbezahlten Mieten werden nicht an den Vermieter weitergereicht; nach der Zwangsräumung ist die Begleichung der angehäuften Mietschulden unzumutbar.Armrechnen: Selbstständige mit einem Einkommen jenseits der 50.000 Euro rechnen sich steuerlich arm und erheben Anspruch auf Grundsicherung.Krankschreibung: Ausländische Hartz-IV-Bezieher lassen sich während der Sommermonate in ihrer Heimat krankschreiben, beziehen ihre Grundsicherung – und melden sich nach zwei Monaten wieder gesund zurück.

Frustrierte Jobcenter-Mitarbeiter

Die Frustration der Mitarbeiter ist angesichts ihres schmalen Gehalts und der täglichen Begegnung mit dem Leistungsmissbrauch hoch. Jeder dritte Angestellte in Berlin hat nur einen Zeitvertrag; die meisten Zuarbeiter verdienen gerade mal 1500 Euro – „nicht wenige sind daher Mitarbeiter und Kunde der Jobcenter zugleich“. Klar, „dass es da einem manchmal in den Fingern juckt, den besonders Frechen das Geld für die Klassenfahrt zu versagen, die man den eigenen Kindern am Vorabend ausreden musste. Aber was hilft’s? Die haben einen Anspruch darauf und fordern ihn ein.“ Besonders dreist geht es in der Leistungsabteilung zu; dort werden wir „mindestens einmal die Woche beschimpft und bedroht, wenn wir nicht gleich das Geld rüberreichen“. Umso nervtötender sei es, permanent damit beschäftigt zu sein, Regelsätze, Mieten, Umzüge und Mehrbedarfe für Alleinerziehende durchzuwinken, einmalige Sachleistungen für den Wohnungserstbezug, das Baby und die Schwangerschaft, dazu Klassenfahrten, Sozialtickets, die Befreiung von GEZ-Gebühren... – „und am Wochenende sieht man sie alle im Hallenbad, in dem sie sich zum ermäßigten Preis tummeln, während man selbst das doppelte Geld hinlegen muss“.

Sanktionen sind kaum durchsetzbar

Noch größer wird die Frustration dadurch, dass die Mitarbeiter der Jobcenter Sanktionen, also „das einzige Mittel, dass wir zur Verfügung haben, um Kunden überhaupt noch klarzumachen, dass sie auch so was wie Pflichten haben“, praktisch nicht umsetzbar sind. Die formalen Erfordernisse sind zu hoch, die Fachkenntnisse der eilig eingearbeiteten Angestellten zu niedrig. Jede Sanktion löst eine Lawine von Anhörungen, Bescheiden, Widersprüchen und Klagen aus, „die wir einfach nicht bewältigen können“. Oft schleichen sich Fehler ein, weil Mitarbeiter im Sozialparagrafendschungel eine neue Durchführungsvorschrift übersehen haben. Hinzu kommt, dass rund um die Jobcenter eine regelrechte Rechtsindustrie entstanden ist: Anwälte, die sich bei der BA eingemietet haben, erbieten sich nur zu gern, jeden Sanktionsbescheid anzufechten. Im Jahre 2008 waren vier von zehn Widersprüchen gegen Sanktionen ganz oder teilweise erfolgreich – und zwei von drei Klagen. Erreicht eine Sanktion dennoch die Leistungsabteilung, muss sie binnen zwei Monaten fehlerfrei umgesetzt sein – kein Kinderspiel, weil einige Sanktionen zum Teil durch Sachleistungen kompensiert werden. „Die Zahl der Verordnungen, Ausnahmen und Gesetzesauslegungen ist schlicht unübersehbar. Die Folge ist, dass ein Viertel der rechtlich durchgesetzten Sanktionen am Ende nicht durchgesetzt werden: „Wir schaffen es einfach nicht.“

Kochs Forderung, den Kampf gegen die Arbeitsunwilligkeit aufzunehmen, halten sie in den Jobcentern für völlig abwegig: „Wir haben den Kleinkrieg längst verloren.“ Hartz IV sei ein erster Schritt gewesen, ein kleiner Erfolg, nicht mehr. Die Zahl der erwerbsfähig Hilfebedürftigen ist seit 2006 bundesweit um zehn Prozent zurückgegangen – „schön und gut, aber hat jemand schon mal die Kosten des fortgesetzten Missbrauchs und der Rechtsindustrie eingerechnet?“. Höchste Zeit also für eine Generalrevision von Hartz IV. Für eine entschiedene Lösung der Niedriglohnfrage. Und für ein Nachdenken über das Bürgergeld, wie es FDP und Grüne vorschlagen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%