Helmut Kohl Ein Kanzler für die Geschichtsbücher

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Politisches Meisterwerk

Und Michail Gorbatschow, der KP-Chef in Moskau, der seit 1985/86 versucht, die ihrem Bankrott entgegen stürzende Sowjetunion zu reformieren? Nun, Helmut Kohl hält „Glasnost“ (Offenheit) und „Perestroika“ (Umbau) für reine Entspannungspropaganda, vergleicht Gorbatschows Fähigkeiten in punkto „Public Relation“ mit denen von Joseph Goebbels – und knüpft erst spät (1988/89) Gespräche an, die vor allem um wirtschaftliche Interessen kreisen. Doch als die Mauer fällt, schaltet Kohl flugs um auf joviale Strickjackendiplomatie. Er ringt dem letzten Sowjet die Einheit, kurz darauf auch die Verankerung Gesamtdeutschlands im Westen ab – und heizt die deutsch-russischen Beziehungen mit seiner „Sauna-Freundschaft“ zu Russlands Boris Jelzin auf. Kein anderer verzahnt persönliche Nähe so geschickt mit Realpolitik. Kein anderer übersetzt kühl kalkulierte Interessen so lückenlos in warme, symbolische Bilder. Als politische Zeitzeichen gehen sie bis heute um die Welt. Helmut Kohl – ein früher Meister der „ikonischen Wende“.

"Deutschland – ein kollektiver Freizeitpark"
22. Juni 1993: „Meine Lebenserfahrung nach fast elf Jahren in der EG: Wenn irgendwo Geld gebraucht wird, wendet man stumm den Blick auf die Deutschen.“Kohl vor Journalisten am 22. Juni 1993 auf dem EG-Gipfel in Kopenhagen Quelle: AP
Menschlichkeit der Gesellschaft: „Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt daran, wie sie mit den schwächsten Mitgliedern umgeht.“Kohl im Mai 199 Quelle: dpa
Vergleich mit Goebbels: „Er ist ein moderner kommunistischer Führer, der sich auf Public Relations versteht. Goebbels, einer von jenen, die für die Verbrechen der Hitler-Ära verantwortlich waren, war auch ein Experte in Public Relations.“Kohl in einem Interview mit dem US-Nachrichtenmagazin „Newsweek“ im Oktober 1986 über Michail Gorbatschow Quelle: dpa
„Wir gehen nach Berlin – aber nicht in eine neue Republik.“ Kohl im Juli 1999 in Anspielung an die sogenannte Bonner Republik Quelle: dpa
Sie und Du: „You can say you to me.“Kohl zu Margaret Thatcher – nichtwissend, dass das englische You das höfliche Sie und das Du gleichermaßen bedeutet. Quelle: AP
Gnade der späten Geburt: „Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt und das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.“Kohl am 24. Januar 1984 in einer Rede vor der Knesset in Israel Quelle: dpa
Wahlkampf wie ein Marathonlauf: „Wahlkampf ist ein Marathonlauf. Es kommt nicht darauf an, wer auf den ersten Metern vorn liegt, sondern wer am Schluss gewinnt.“Kohl in einem Zeitungsinterview 1998 Quelle: REUTERS

Doch die Unbeirrbarkeit Helmut Kohls und seine geschichtlich aufgeladene Politik haben ihren Preis. Der Weg zur deutschen Einheit und zur Verankerung des neuen deutschen Staates im westlichen Institutionengefüge, der Weg in den Euro und zur Osterweiterung der Europäischen Union ist mit deutschen Milliarden gepflastert. Helmut Kohl kauft seine politischen Erfolge ein, auch das gehört zur Wahrheit, und hinter der Kulisse der politischen Freundschaften geht es oft zu wie auf einem orientalischen Basar. Speziell die europäischen Staatschefs lassen sich die obsessive Machtvergessenheit Kohls, seinen postheroischen Internationalismus und seinen ostentativen Willen zur deutschen Selbstbeschränkung reich vergüten. „Jede für Europa ausgegebene Mark ist gut angelegtes Geld“ – davon ist Helmut Kohl, der Anti-Bismarck, überzeugt – und seine Amtskollegen in Paris und London wissen das auszunutzen. Margaret Thatcher braucht das Projekt Europa nur in Frage zu stellen, schon gewährt Kohl ihr den „Britenrabatt“ (1983). Frankreich braucht nur ein wenig zu stöhnen über teure Agrarreformen – schon ist Kohl bereit, die Deutschen zur Kasse zu bitten (1984). Auf dem Höhepunkt seiner Kanzlerschaft, 1990, finanziert die Bundesrepublik fast 70 Prozent der EU-Nettotransfers.

Angela Merkel: Ich verneige mich vor seinem Angedenken.

Mit der Einheit nimmt Helmut Kohls „Bimbes-Politik“ beinah’ obszöne Züge an. 18 Milliarden Mark lässt er 1990 für die USA und die Frontstaaten springen, um Deutschland eine militärische Beteiligung am ersten Golfkrieg zu ersparen und die Amerikaner bei Laune zu halten während des Vereinigungsprozesses – mehr als Washington erbeten hat. Mehr als 100 Milliarden Mark überweist Kohl bis 1996 in die Sowjetunion, die osteuropäischen Länder und die GUS-Staaten, sei es für den Abzug der russischen Streitkräfte, sei es in Form von Wirtschaftshilfen, Kreditgarantien, Hermes-Bürgschaften, Investitionszuschüssen. Noch mehr Geld fließt als direkte Aufbauhilfe in die neuen Bundesländer; hinzu kommen die Kosten für die Währungsumstellung, Sozialtransfers, die Beseitigung von Altlasten.

Kohl ist damals wie im Rausch. Plötzlich ist es, als fügten sich alle Mosaiksteine seiner Außenpolitik zu einem politischen Meisterwerk, als sei all’ sein Wirken zwangsläufig auf diesen welthistorischen Moment hinaus gelaufen: auf das denkbar beste Ende eines fürchterlich gewaltsamen 20. Jahrhunderts. Kohl spürt den „Rockzipfel der Geschichte“, fühlt sich wie ein Werkzeug von Hegels Weltgeist, der alles zum Besten ordnet. Er will „blühende Landschaften“ herbei zaubern, Deutschland mit Polen, Tschechien, Ungarn und Europa mit sich selbst versöhnen – und er wischt mit der Nonchalance eines Traumwandlers die Bedenken derer beiseite, die er im göttlichen Moment glückender Geschichte nur für Knauser und Knicker, für politische Kleinkrämer und ökonomische Erbsenzähler halten kann. Geld? Was für eine Profanität: „Zur Not drucken wir halt ein bisschen mehr.“

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