Helmut Kohl Ein Kanzler für die Geschichtsbücher

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Was bleibt von Helmut Kohl?

Aber halt, natürlich, da fehlt noch was: das hässliche, erschütternde Postskriptum. Helmut Kohl wird von der Geschichte eingeholt, genauer: von seiner Geschichte – von seiner Bimbes-Politik, von seiner verletzten und verletzenden Art, von seiner Denkmalhaftigkeit. Die CDU-Schwarzgeldaffäre, in deren Zentrum ein von Kohl installiertes System geheimer Konten zur Verschleierung von illegalen Parteispenden steht, reißt die Union 1999 beinahe in den politischen Abgrund. Kohl behindert die Aufräumarbeiten, betreibt den Sturz von Parteichef Wolfgang Schäuble und vereitelt die Strafverfolgung der Spender. Er wird in der CDU zur persona non grata erklärt; an Jahrestagen der deutschen Einheit ehrt man nicht ihn, sondern sein Standbild. Im Juli 2001 scheidet Kohls Ehefrau Hannelore nach langer Krankheit aus dem Leben; seit 2005 lebt er an der Seite seiner zweiten Frau Maike Kohl-Richter. Kohls Söhne sind 2008 nicht zur Hochzeit eingeladen; sie werfen Maike Kohl-Richter „Heldenverehrung“ vor, es kommt zum Zerwürfnis: „Besuche sind nicht möglich. Es wurde uns mit Verhaftung gedroht – vor dem eigenen Elternhaus.“ Kohls Gesundheit ist seit Jahren labil; seit 2008 ist er infolge eines Sturzes schwer gezeichnet von einem Schädel-Hirn-Trauma: Das Sprechen fällt ihm schwer, und er benutzt bei seinen seltenen öffentlichen Auftritten einen Rollstuhl. Trotzdem bringt er die Kraft auf für das Schreiben seiner Memoiren – und für Rechtsstreitigkeiten mit seinem Ghostwriter Heribert Schwan, dem er die Verbreitung unautorisierter Zitate untersagen lässt.

Was also bleibt von Helmut Kohl? Nun – exakt das, wovon er träumte: die Erinnerung an den „Kanzler der deutschen Einheit“ und an den „Kanzler der europäischen Einigung“. Sicher, der ökonomische Preis seiner postnationalen Europapolitik wird heute viel höher veranschlagt als damals – und die politische Dividende niedriger. Mehr noch: Der EU droht heute ausgerechnet von Seiten jener Gefahr, die Europa als politischen Wert an sich verheiligen, es sich gleichzeitig zur Beute ihrer nationalen Egoismen machen und meinen, es mit dem ökonomischen Einmaleins nicht so genau nehmen zu müssen. Kohl selbst hat sich das Ausmaß falsch verstandener Solidarität nicht vorstellen können und den Kosten des Euro die Chancen eines integrierten Wirtschaftsraumes entgegengehalten, nicht zuletzt für die deutsche Exportindustrie – ein Argument, das in Stellungnahmen von Verbandsvorständen und Top-Managern bis heute nachhallt. Unumstritten bleiben seine Verdienste um die deutsche Einheit. Kohl hat damals, als Intellektuelle, Linksliberale und Politiker aller Parteien feuilletonistischen Gespenstern von Zweistaatlichkeit und Kulturnation nachjagten, das „Fenster der Geschichte“ aufgehen sehen und mit mutiger Entschlusskraft die Weichen gestellt für die blockfreie, dezentrierte Welt, in der wir heute leben. Es ist töricht, Kohls beherzte Politik gegen auf die aufopferungsvolle Freiheitsbewegung in der DDR oder Gorbatschows Perestroika auszuspielen, um seine, ja: historische Großtat zu relativieren. Für den langen Moment der Weltwende 1989/90 schien Helmut Kohl damals das „Ende der Geschichte“ gekommen, schienen historischer Auftrag, programmatische Mission und eine sich gegenwärtig vollziehende politische Wirklichkeit ineinander zu fallen: Geschichte als Subjekt – Helmut Kohl ihr Werkzeug. Man hat ihn sich in jenen Monaten als glücklichen Menschen vorzustellen. 

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