Genz leitet den Fachbereich Arbeit und Soziales der Stadt Mannheim, er ist der oberste Arbeitsvermittler der Stadt. Und einer der erfolgreichsten des ganzen Landes. Bundesweit sank die Zahl der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger zwischen 2008 und 2014 um rund 13 Prozent. In Mannheim waren es im selben Zeitraum mehr als 20 Prozent. Als Genz 2003 seinen Dienst am Rhein antrat, gab es in den Karteien außerdem mehr als 1000 unter 25-Jährige ohne Job. Zwei Jahre später waren es kaum mehr als 100.
Das Beste: Man muss die Welt für solche Erfolge nicht einmal neu erfinden.
Man muss nur suchen. Die Idee für die Job-Börsen etwa hatte Genz nicht selbst, sondern aus den Niederlanden. Ein wenig wie Last-Minute-Schalter am Flughafen kam ihm das dort vor, nur eben für Menschen, die keine Karibikreise suchen, sondern eine neue Chance. Er fand den Ansatz genial, und deshalb kopierte er ihn einfach. „Sehr viel von dem, was wir in Mannheim machen“, sagt er offen, „habe ich mir in Europa abgeschaut.“
Mit diesem europäischen „Best of“ ist Genz selbst ein Vorbild geworden. Anfang der Zweitausenderjahre leitete er das Arbeitsamt in Köln. Als die Kommission von Peter Hartz nach Inspirationen für den Umbau der skandalgeschüttelten Bundesanstalt für Arbeit suchte, landete sie bei ihm. Dort praktizierte Genz bereits im Kleinen das, was später ein Kernstück der hartzschen Reformagenda werden sollte: die Fusion von Jobförderung und Sozialhilfe unter einem Dach.
Was folgte, gehört zum Kanon der jüngeren deutschen Politikgeschichte: Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) goss die Vorschläge der Hartz-Kommission in Gesetze, um den Preis seiner eigenen Kanzlerschaft. Ideen von damals wie Job-Floater, Personal-Service-Agenturen oder Ich-AGs hat die Wirklichkeit längst hinweggespült. Es kamen und blieben aber: die neue Grundsicherung, die fast jeder Deutsche unter ihrem Etikett Hartz IV kennt, das hehre Prinzip des „Förderns und Forderns“ und eine hitzige Debatte, ob „Hartz“ nun das Ende des Sozialstaats war – oder dessen letzte Rettung.
Diese Debatte läuft bis heute.
Hermann Genz kann das nicht verstehen. Für ihn selbst ist die Frage, ob dieses umstrittene Reformwerk nun richtig oder falsch war, entschieden: Es war richtig. Was die Kommission vorlegte, hat er begrüßt und verteidigt, und er tut dies bis heute. Gerade, weil er all dessen Schwächen kennt.
Zehn Jahre Hartz IV: Arbeitslosigkeit damals und heute
Rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland - das sind 6,3 Prozent - sind heute arbeitslos (Stand: Oktober 2014). Vor zehn Jahren war noch jeder Zehnte (10,1 Prozent) ohne Job, 4,4 Millionen Menschen hatten keine Arbeit (Stand: Oktober 2004). Im darauffolgenden Jahr erreichte die Arbeitslosigkeit mit rund fünf Millionen Arbeitslosen ihren Spitzenwert seit der Wiedervereinigung. Im Wesentlichen hing diese Entwicklung mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen („Hartz-IV-Effekt“).
Den Zahlen nach zu urteilen haben Frauen heute wie damals kein größeres Risiko als Männer, arbeitslos zu werden. Der tatsächliche Anteil arbeitsloser Frauen dürfte dennoch höher liegen: Statistiker vermuten, dass insbesondere unter Frauen die stille Reserve höher liegt, weil viele keine Vermittlungschancen mehr sehen.
Im Jahresmittel 2004 betrug die Arbeitslosigkeit im Westen 8,5 Prozent, im Osten war sie mit über 18 Prozent mehr als doppelt so hoch.
Der Abstand hat sich inzwischen merklich verringert, ist aber weiterhin groß: Im Westen liegt die Quote heute bei etwa sechs Prozent, im Osten bei etwa zehn Prozent. Während das Potenzial an Menschen, die einer Arbeit nachgehen können, in Gesamtdeutschland stieg, sank es im Osten leicht.
Der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren ist in den vergangenen zehn Jahren zwar zurückgegangen. 2005 waren in dieser Altersgruppe noch knapp 15 Prozent arbeitslos, heute hat sich die Zahl mehr als halbiert. Ein Grund zum Jubeln ist das aber nur bedingt: Schließlich sinkt aus demografischen Gründen seit Jahren die Zahl der jungen Erwachsenen insgesamt. Die Arbeitslosenquote der Unter-25-Jährigen liegt seit zehn Jahren konstant etwa drei Prozentpunkte über der Gesamtquote.
In den vergangenen zehn Jahren stieg der Anteil der 55- bis 64-Jährigen an der Gesamtarbeitslosigkeit von 25 auf über 33 Prozent. In absoluten Zahlen waren aber weniger Ältere arbeitslos. Denn auch hier spielt die demografische Entwicklung eine Rolle. 2005 waren gut 15 Millionen Menschen zwischen 50 und 64 Jahre alt, 2015 werden es bereits über 18 Millionen sein. In dieser Gruppe hat sich der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2005 um knapp zehn Prozentpunkte erhöht, denn die Zahl der arbeitenden Älteren ist auf knapp 9 Millionen angestiegen.
Die bei der Bundesarbeitsagentur gemeldeten offenen Stellen sind in den vergangenen zehn Jahren mehr geworden - mit einem deutlichen Knick zur Finanzkrise 2009. Im Jahr 2005 waren 256.000 Stellen als offen gemeldet, 2013 waren es 434.000. Seit 2012 ist die Zahl der offenen Stellen wieder rückläufig.
Vor genau zehn Jahren trat die Hartz-Reform in Kraft. Ein Grund zum Feiern?
Herrmann Genz: Ich kann mich noch gut an die Montagsdemonstrationen erinnern. Ich kenne den Hass und die Wut, die einem dort entgegenschlugen, weil ich mich als Befürworter zu erkennen gab. Leider habe ich damals vielen Politikern dabei zusehen müssen, wie sie sich wegduckten. Ich habe immer für diese Reform gekämpft. Aber eines war klar: Bis dieser Umbruch abgeschlossen ist, vergehen zehn Jahre. So gesehen, fangen wir mit Hartz gerade erst an.
Wie meinen Sie das? Der deutsche Arbeitsmarkt feiert doch einen Beschäftigungsrekord nach dem nächsten.
Die Hartz-Reform wurde zweimal nach Karlsruhe geschleift. Einmal ging es um die Höhe der Regelsätze, ein zweites Mal um die Frage, ob Arbeitsagentur und Kommunen bei der Jobvermittlung überhaupt gemeinsame Sache machen dürfen. Es gab gesetzliche Nachbesserungen im Dutzend. Dies zu verdauen hat gedauert. Und es hat Kraft verschwendet, die wir anderswo gebraucht hätten.
Wo genau wäre denn mehr nötig gewesen?
Es bringt nur eines Arbeitslose in Jobs: dichte und gute Betreuung. Auf die schiere Menge von Fördermaßnahmen kommt es dagegen nicht an. Ich habe irgendwann aufgehört, die Arbeitsminister und deren neue Instrumente zu zählen, mit denen wir im Laufe des vergangenen Jahrzehnts berieselt worden sind...
Wenn über die Grundsicherung gestritten wird, ist gern und viel von Würde die Rede. Können Sie damit etwas anfangen?
Ja, allerdings wohl anders als viele Kritiker. An einem krankt Hartz in der Tat: Leistung und Arbeit sind vollständig entkoppelt. Das System trimmt Arbeitslose auf Nicht-Aktivität. Geld für nichts zu bekommen, das empfinden die meisten als unwürdig. Die wollen eine Chance. Ich nenne das gerne meine Sucht-Theorie: Wir auf dem Amt sind die Dealer, unsere Kunden sind die Süchtigen. Und wir versorgen sie mit dem Stoff, den sie brauchen: Geld. Wenn wir diese Denke nicht ablegen, ändert sich nichts.