Herwig Birg "Die demografische Uhr tickt unbarmherzig"

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Diskussion demografischer Fragen

Es gibt also keine offene Diskussion demografischer Fragen?

Das ist mehr als ein Tabu. Ein Tabu ruft Widerstand hervor, aber das Beschweigen der demografischen Probleme ist einhellig. Eigentlich wäre das ein Thema für die Geistesgeschichte, aber die Historiker melden sich auch nicht zu Wort.

Ihr Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld, 1981 auf Initiative des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau gegründet, wurde nach Ihrer Emeritierung eingestampft.

Damals gründete man Institute noch auf Grund rationaler Argumente. Unser interdisziplinäres Institut mit fünf Wissenschaftlern war unabhängig von den Universitätsfakultäten und funktionierte tadellos. Doch es wurde von der CDU-Landesregierung unter Jürgen Rüttgers nach meiner Emeritierung aufgelöst – gegen alle Empfehlungen wissenschaftlicher Gremien innerhalb und außerhalb der Universität. Das gleiche geschah mit den demographischen Lehrstühlen der Universitäten in Bamberg und Berlin. Es gibt da ein großes Einvernehmen aller großen Parteien. In derselben Zeit wurden übrigens Dutzende von Lehrstühlen für Gender-Forschung geschaffen. An Geldnot lag es also nicht.

Die Deutschen sind zu optimistisch
In Deutschland wird sich das Rentensystem verändern. Mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles kommt ein Rentenpaket, dass den Deutschen noch teuer zu stehen kommen könnte, so der Bundesverband Investment und Asset Management (BVI). Vor allem die neu eingeführte „Mütterrente“ dürfte auf die Rentenkassen lasten. Auf insgesamt 160 Milliarden Euro summieren sich die Mehrausgaben laut Hochrechnungen von Sachverständigen bis zum Jahr 2030 – das ist eines der bislang teuersten Vorhaben der Wahlperiode. „Eine solche Zusatzbelastung kann selbst bei steigenden Steuereinnahmen lediglich über höhere Rentenbeiträge und sinkende Renten im Alter ausgeglichen werden“, sagt Thomas Richter,  Hauptgeschäftsführer des BVI. Quelle: dpa
Wie die 160 Milliarden Euro aufgebracht werden, ist noch unklar. Sicher aber ist: Es wird die künftigen Rentenbezieher treffen. Der BVI hat 1007 Bundesbürger nach ihren Einschätzungen befragt und kommt zu dem Schluss, dass viele der Befragten die künftige Rentensituation falsch einschätzen. Quelle: dpa
Auf die Frage, wenn das Rentenpaket am meisten treffen würde, gaben vor allem die 18- bis 29-Jährigen an (65 Prozent), dass die jüngere Generation die Last des Rentenpakets wird tragen müssen. Nur 16 Prozent halten die 30- bis 59-Jährigen für die Hauptlastträger. Die Rentnergeneration ist laut den jüngeren Befragten Nutznießer der Reform. Quelle: dpa
Auffällig ist die unterschiedliche Einschätzung je nach Berufsgruppe. So gehen nur 54 Prozent der befragten Arbeiter davon aus, dass die jüngere Generation unter dem neuen Rentenpaket leiden wird. Im Vergleich zu den Angestellten und den Beamten halten sie die Lage der mittleren Generation (21 Prozent) und der älteren Generation (19 Prozent) für prekärer. Quelle: dpa
Die Angestellten sehen bei der älteren Generation die geringsten Anpassungsprobleme mit der neuen Rentenreform. Nur zehn Prozent von ihnen gaben an, dass es sie am härtesten treffen wird. Die jüngere Generation (63 Prozent) wird es laut den Angestellten schwieriger haben. Danach folgt die mittlere Generation mit 21 Prozent. Quelle: dpa
Beamte halten die Lage der jüngeren Generation für noch problematischer. Rund 70 Prozent sehen für sie bezüglich der Rente schwierige Zeiten aufkommen. Nur sieben Prozent halten die Rente der mittleren Generation für gefährdet. Laut den Beamten müssen allerdings rund 16 Prozent der Älteren um ihre Rente bangen. Quelle: dpa
Nach eine möglichen Rentenlücke befragt, gaben immerhin 53 Prozent an, dass keine drohe. Allerdings stehen dieser Gruppe 43 Prozent gegenüber, die die Gefahr einer Rentenlücke durchaus für realistisch halten. Quelle: dpa

Kommen wir zu den Ursachen der demografischen Veränderung. Sie sehen den entscheidenden Grund dafür im so genannten demografisch-ökonomischen Paradoxon. Was bedeutet das?

Normalerweise wird von einem bestimmten Gut umso mehr nachgefragt, je höher das Einkommen ist. Bei Kindern ist das paradoxerweise umgekehrt: Je höher das Pro-Kopf-Einkommen, desto niedriger die Kinderzahl. Die Erklärung ist, dass Frauen mit einer guten Ausbildung ein hohes Lebenseinkommen verlieren, wenn sie für Kinder auf die Nutzung ihres Humankapitals verzichten. Ein Mittel zur Abmilderung dieses Entscheidungszwangs gegen Kinder könnte die Verwirklichung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit sein. Aber in der Realität funktioniert das leider nicht wirklich. Nur ganz wenige kriegen das hin. Das kann man empirisch belegen. Eine Chefsekretärin, die zu jeder Tages- und Nachtzeit für den Chef bereit stehen muss, kann keine kleinen Kinder haben. Wenn Frauen bestimmte Positionen anstreben, verzichten sie in aller Regel auf Kinder. Man hört oft auch die Klage, dass weibliche Personalvorstände ohne Kinder gegen ihre Geschlechtsgenossinnen mit Kindern arbeiten. Die haben nicht nur kein Verständnis für Mütter, außerdem scheint auch ein gewisser Neid eine Rolle zu spielen.

Innerhalb der westlichen Welt liegt die Geburtenrate zwar überall unterhalb des bestandserhaltenden Werts von 2,1 Kindern pro Frau. Aber es gibt durchaus große Unterschiede. Die Französinnen, Engländerinnen und Amerikanerinnen bekommen deutlich mehr Kinder als deutsche Frauen. Allein mit dem demografisch-ökonomischen Paradoxon ist das nicht zu erklären.

Frankreich hatte nach 1789 die absolut niedrigste Geburtenrate Europas. Schon im 19. Jahrhundert ergriffen französische Regierungen dann Maßnahmen für eine Erhöhung der Geburtenzahl. Zum Beispiel wurden Familienväter in den Betrieben bei gleicher Arbeit höher bezahlt als familienlose Männer. Die französische Bevölkerungspolitik ist auf höchster Ebene direkt beim Staatspräsidenten angesiedelt. Ab dem dritten Kind muss eine französische Frau gar nicht mehr erwerbstätig sein, weil sie genug staatliche Unterstützung erhält. Das gilt nicht fürs erste Kind. Aber ab dem zweiten Kind lohnt es sich. Das wirkt vor allem bei den Einwanderern. Als ich das letzte Mal in den 1990er Jahren diese tabuisierten Daten aus Paris bekam, lag die Geburtenrate bei den nicht eingewanderten Französinnen bei nur 1,7 Kindern. Frankreichs Einwanderer haben im Schnitt deutlich mehr Kinder als unsere Einwanderer. Das hebt den französischen Schnitt über den deutschen.

Welche Länder überaltern
Platz 8: Schweden Quelle: dapd
Platz 7: Portugal Quelle: REUTERS
Senioren beim Nordic-Walking Quelle: dpa
Griechenland Quelle: dpa
Platz 10: Finnland Quelle: dapd
Platz 5: Bulgarien Quelle: Reuters
Platz 4: Italien Quelle: dapd

Wie ist es in Großbritannien?

Die hinduistischen und muslimischen Zuwanderer aus den früheren britischen Kolonien haben sehr hohe Geburtenraten. Wenn man nach Religionen differenziert, haben Muslime und Hindus die höchsten und Christen und Atheisten die niedrigsten. Das hat die Schweizer Volkszählung gezeigt, bei der das im Gegensatz zu anderen Ländern erhoben wird.

Eine vergleichsweise hohe Geburtenrate haben auch die USA.

Weil sie auf sozialpolitischem Gebiet kein Industrie- sondern ein Entwicklungsland sind. In Ländern ohne soziales Netz muss man mehrere Kinder haben, um in Notfällen im Alter abgesichert zu sein. In jedem Industriestaat mit einer hohen Geburtenrate gibt es sehr gute Gründe dafür. Und in Deutschland gibt es eindeutige Gründe dafür, dass die Geburtenrate so niedrig ist. Ein historischer Sonderfaktor ist Bismarcks Rentensystem seit den 1890er Jahren. Ursprünglich kapitalgedeckt, dann seit 1957 umlagefinanziert. Diese Vorkehrungen gegen Not im Alter führten zu dem Irrglauben, man brauche keine eigenen Kinder, weil es dieses System gebe.

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