Es gibt also keine offene Diskussion demografischer Fragen?
Das ist mehr als ein Tabu. Ein Tabu ruft Widerstand hervor, aber das Beschweigen der demografischen Probleme ist einhellig. Eigentlich wäre das ein Thema für die Geistesgeschichte, aber die Historiker melden sich auch nicht zu Wort.
Ihr Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik an der Universität Bielefeld, 1981 auf Initiative des damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau gegründet, wurde nach Ihrer Emeritierung eingestampft.
Damals gründete man Institute noch auf Grund rationaler Argumente. Unser interdisziplinäres Institut mit fünf Wissenschaftlern war unabhängig von den Universitätsfakultäten und funktionierte tadellos. Doch es wurde von der CDU-Landesregierung unter Jürgen Rüttgers nach meiner Emeritierung aufgelöst – gegen alle Empfehlungen wissenschaftlicher Gremien innerhalb und außerhalb der Universität. Das gleiche geschah mit den demographischen Lehrstühlen der Universitäten in Bamberg und Berlin. Es gibt da ein großes Einvernehmen aller großen Parteien. In derselben Zeit wurden übrigens Dutzende von Lehrstühlen für Gender-Forschung geschaffen. An Geldnot lag es also nicht.
Kommen wir zu den Ursachen der demografischen Veränderung. Sie sehen den entscheidenden Grund dafür im so genannten demografisch-ökonomischen Paradoxon. Was bedeutet das?
Normalerweise wird von einem bestimmten Gut umso mehr nachgefragt, je höher das Einkommen ist. Bei Kindern ist das paradoxerweise umgekehrt: Je höher das Pro-Kopf-Einkommen, desto niedriger die Kinderzahl. Die Erklärung ist, dass Frauen mit einer guten Ausbildung ein hohes Lebenseinkommen verlieren, wenn sie für Kinder auf die Nutzung ihres Humankapitals verzichten. Ein Mittel zur Abmilderung dieses Entscheidungszwangs gegen Kinder könnte die Verwirklichung der Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit sein. Aber in der Realität funktioniert das leider nicht wirklich. Nur ganz wenige kriegen das hin. Das kann man empirisch belegen. Eine Chefsekretärin, die zu jeder Tages- und Nachtzeit für den Chef bereit stehen muss, kann keine kleinen Kinder haben. Wenn Frauen bestimmte Positionen anstreben, verzichten sie in aller Regel auf Kinder. Man hört oft auch die Klage, dass weibliche Personalvorstände ohne Kinder gegen ihre Geschlechtsgenossinnen mit Kindern arbeiten. Die haben nicht nur kein Verständnis für Mütter, außerdem scheint auch ein gewisser Neid eine Rolle zu spielen.
Innerhalb der westlichen Welt liegt die Geburtenrate zwar überall unterhalb des bestandserhaltenden Werts von 2,1 Kindern pro Frau. Aber es gibt durchaus große Unterschiede. Die Französinnen, Engländerinnen und Amerikanerinnen bekommen deutlich mehr Kinder als deutsche Frauen. Allein mit dem demografisch-ökonomischen Paradoxon ist das nicht zu erklären.
Frankreich hatte nach 1789 die absolut niedrigste Geburtenrate Europas. Schon im 19. Jahrhundert ergriffen französische Regierungen dann Maßnahmen für eine Erhöhung der Geburtenzahl. Zum Beispiel wurden Familienväter in den Betrieben bei gleicher Arbeit höher bezahlt als familienlose Männer. Die französische Bevölkerungspolitik ist auf höchster Ebene direkt beim Staatspräsidenten angesiedelt. Ab dem dritten Kind muss eine französische Frau gar nicht mehr erwerbstätig sein, weil sie genug staatliche Unterstützung erhält. Das gilt nicht fürs erste Kind. Aber ab dem zweiten Kind lohnt es sich. Das wirkt vor allem bei den Einwanderern. Als ich das letzte Mal in den 1990er Jahren diese tabuisierten Daten aus Paris bekam, lag die Geburtenrate bei den nicht eingewanderten Französinnen bei nur 1,7 Kindern. Frankreichs Einwanderer haben im Schnitt deutlich mehr Kinder als unsere Einwanderer. Das hebt den französischen Schnitt über den deutschen.
Wie ist es in Großbritannien?
Die hinduistischen und muslimischen Zuwanderer aus den früheren britischen Kolonien haben sehr hohe Geburtenraten. Wenn man nach Religionen differenziert, haben Muslime und Hindus die höchsten und Christen und Atheisten die niedrigsten. Das hat die Schweizer Volkszählung gezeigt, bei der das im Gegensatz zu anderen Ländern erhoben wird.
Eine vergleichsweise hohe Geburtenrate haben auch die USA.
Weil sie auf sozialpolitischem Gebiet kein Industrie- sondern ein Entwicklungsland sind. In Ländern ohne soziales Netz muss man mehrere Kinder haben, um in Notfällen im Alter abgesichert zu sein. In jedem Industriestaat mit einer hohen Geburtenrate gibt es sehr gute Gründe dafür. Und in Deutschland gibt es eindeutige Gründe dafür, dass die Geburtenrate so niedrig ist. Ein historischer Sonderfaktor ist Bismarcks Rentensystem seit den 1890er Jahren. Ursprünglich kapitalgedeckt, dann seit 1957 umlagefinanziert. Diese Vorkehrungen gegen Not im Alter führten zu dem Irrglauben, man brauche keine eigenen Kinder, weil es dieses System gebe.