Herwig Birg "Die demografische Uhr tickt unbarmherzig"

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Politisch gewolltes Unwissen

Die Menschen verstehen also nicht, dass das System nur funktioniert, wenn genug Kinder geboren werden?

Umfragen zeigen immer wieder, dass die Menschen nicht wissen, was mit ihren Rentenbeiträgen passiert. Sie meinen, dass sie etwas davon wiederkriegen, weil ihnen nicht klar ist, dass die Beiträge im Umlageverfahren mehr oder weniger sofort an die aktuellen Rentner ausgezahlt werden. Das umlagefinanzierte deutsche Rentensystem wäre dann und nur dann das sicherste und gerechteste der Welt, wenn erstens die Geburtenrate wie bei seiner Einführung 1957 bei rund zwei Kindern pro Frau läge und wenn zweitens die Frauen nicht wie heute zu einem Viertel bis einem Drittel kinderlos bleiben würden – Tendenz steigend. Soziale Gerechtigkeit und demographische Stabilität sind also zwei Ziele, die nur gemeinsam verwirklicht werden können - oder gar nicht.

Warum dieses Unwissen?

Das ist der Politik anzulasten. Es ist gewollt, die Bürger im Irrglauben zu belassen, ihnen keinen reinen Wein einzuschenken. Zur Angst der Politiker vor der Wahrheit kommt die Feigheit vor dem Wähler.

Aber die Leute können sich doch informieren.

Ja, das Internet könnte etwas bewirken, wenn die Leute lernen, aus dem unglaublichen Wust an Informationen die wertvollen herauszufischen. Aber wir haben schon so viel Zeit verloren, seit das demografische Problem in den 1970er Jahren offenbar wurde. Wenn wir noch einmal so viel Zeit verlieren, erübrigen sich solche Gespräche wie dieses.

Welche gesellschaftlichen Konflikte erwarten Sie aus der demografischen Entwicklung?

Zu dem Interessengegensatz zwischen Jungen und Alten, der durch Anhebung des Rentenalters zu entschärfen ist, kommt der noch tiefergreifende Konflikt zwischen Menschen mit und ohne Nachkommen. Bei genauem Hinsehen ist das, wie gesagt, ein Verfassungskonflikt, weil die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, die Benachteiligung der Familien zu beseitigen, ignoriert wird.

Die Menschheit wird immer älter, die Welt immer vernetzter. Diese Entwicklungen haben auch einen großen Einfluss auf das Gesundheitswesen. Fünf Megatrends, die man im Auge behalten sollte.

Der dritte Konflikt ist ein regionaler, der im öffentlichen Bewusstsein noch gar nicht angekommen ist. Wir haben prosperierende Metropolregionen, weil die noch vorhandenen gut ausgebildeten jungen Menschen aus den Entleerungsgebieten dahin ziehen. Und diese verändern die Altersstruktur so, dass in den Metropolen mehr Kinder geboren werden als Menschen sterben. Die Zentren wachsen also sowohl natürlich als auch durch Zuwanderung. Das bringt neue Ungerechtigkeiten hervor und macht es unmöglich das Verfassungsgebot der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu erfüllen.

Diese regionale Ausbeutung betreiben wir auch im internationalen Maßstab. Der so genannte Wettbewerb um die Besten bedeutet, dass den schwächeren Ländern ihre besten Leute zum Nulltarif abgesaugt werden. Das ist demografischer Kolonialismus. Der neue Staatspräsident Rumäniens, Klaus Johannis, hat bei seinem Besuch in Berlin gesagt, dass das ein Problem für sein Land sei, wenn die besten Ingenieure nach Deutschland gehen. Es ist ein Märchen, dass diese Leute zurückkehren. Auch Afrika verliert durch diesen Brain Drain seine klügsten Leute. 

Was müsste denn Ihrer Ansicht nach geschehen, um die demografische Ignoranz in Politik und Gesellschaft zu beenden?

Aufklärung! Lehrstühle für Demografie schaffen - nicht abschaffen! Und  die zahllosen Scheinaktivitäten für Demografiepropaganda einstellen. Mit Aufklärung würde sich was ändern. Aber auch an den Wahlurnen. Und deswegen geschieht das nicht.

Soll das das Schlusswort sein?

Sie wollen etwas optimistischeres hören? Wenn Deutschland es schaffte, eine wirkliche Heimat zu werden für die Beladenen dieser Welt, ein rettender Hafen, dann könnten vielleicht die tüchtigen Zugewanderten zu Patrioten Deutschlands werden und aus Dankbarkeit für ihr neues Land wertvolle Leistungen erbringen. Aber darüber diskutieren wir ja gar nicht. Wir reden nur unter allgemeinen, humanitären Gesichtspunkten über Flüchtlinge und Asylbewerber beziehungsweise über den Bedarf an Arbeitskräften. Niemand stellt sich dem Problem, dass die im Inland fehlenden Geburten nicht auf Dauer durch die Geburten anderer Länder kompensiert werden können. Eine neue Demografiepolitik müsste jedoch schnell umgesetzt werden. Denn die demografische Uhr tickt unbarmherzig. Wir haben viel zu lange alles treiben lassen. Jetzt müssten wir handeln.

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