Historiker Heinrich August Winkler im Interview "Selbstkritisches Verhältnis zu unserer Geschichte"

Seite 2/2

Heinrich August Winkler:

In Ihrem neuen Buch "Geschichte des Westens" sprechen Sie von der "Schuld in der eigenen Geschichte" und die Frage, wie westliche Kulturen damit umgehen. Warum trauen wir uns noch immer nicht aus der Reserve?

Weil wir aus guten Gründen ein selbstkritisches Verhältnis zu unserer eigenen Geschichte entwickelt haben. Nationaler Überschwang ist uns aus diesem Grund fremd geworden.

Wäre es, 70 Jahre nach Ausbruch des 2. Weltkriegs, nicht langsam an der Zeit, etwas entspannter mit unserem nationalen Selbstverständnis umzugehen, ohne sich deswegen gleich in die rechte Ecke stellen lassen zu müssen?

Die Erinnerung an die deutsche Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 bleibt ein zentraler Teil unseres Selbstverständnisses. Zu diesem gehört aber auch die Erinnerung an die freiheitlichen Traditionen der deutschen Geschichte. Ihr Symbol sind die Farben schwarz-rot-gold, und die sind heute, anders als in der Weimarer Republik, sehr populär.

Wo liegen die tieferen Gründe, die die Zurückhaltung der Deutschen in Sachen Patriotismus erklären?

Das zentrale Ereignis der älteren deutschen Geschichte war der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), der bis ins 19. Jahrhundert und teilweise darüber hinaus als nationales Trauma nachwirkte. Die Bismarcksche Reichsgründung von 1871 brachte den Deutschen die ersehnte Einheit, aber nicht die volle politische Freiheit. Eine parlamentarische Demokratie wurde Deutschland erst 1918 im Gefolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg. Deswegen galt die Demokratie vielen Deutschen als undeutsche Staatsform. Das war ein wichtiger Grund für Hitlers Wahlerfolge. Der extreme Nationalismus der Nationalsozialisten hat den deutschen Nationalismus dauerhaft entlegitimiert. Das wirkt bis heute nach. Erst nach 1945 erfolgte im Westen Deutschlands das, was Jürgen Habermas 1986 die "vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens" genannt hat.

Vielleicht ist der 3. Oktober ja einfach nur das falsche, weil bürokratisch von oben verordnete Datum, dem jede emotionale Verwurzelung in der deutschen Historie fehlt?

Nein. Den Termin hat zunächst die freigewählte Volkskammer der DDR am 23. August 1990 mit überwältigender Mehrheit beschlossen. Es war der frühest mögliche Termin nach Abschluss der deutsch-deutschen und der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Der 3. Oktober steht für eine große Leistung aller Beteiligten – von den friedlichen Revolutionären in der DDR bis hin zu den Politikern und Diplomaten der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte. Der 3. Oktober 1990 bedeutet im übrigen nicht nur die Lösung der deutschen, sondern auch der polnischen Frage, eines anderen Jahrhundertproblems. Die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war eine wichtige Vorbereitung der Wiedervereinigung. Und auch daran sollten wir uns erinnern: Die friedliche Revolution, die im Herbst 1989 ganz Ostmitteleuropa erfasste, und 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands führte, hat im Sommer 1980 mit der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarnosc" in Polen begonnen.

Wäre der 9. November nicht dennoch das bessere Datum gewesen? An diesem Tag kommen ja viele Ereignisse zusammen, die die wechselhafte Geschichte unseres Landes facettenreich widerspiegeln.

In der Tat ist der 9. November eine Art Schicksalstag der Deutschen: der Fall der Mauer 1989, die Reichspogromnacht 1938, der Hitlerputsch 1923, das Ende der Monarchie durch die Ausrufung der Republik 1918 bis hin zur standrechtlichen Erschießung des überzeugten Demokraten Robert Blum 1848 in Wien – dieser Tag erinnert an viele Marksteine der deutschen Geschichte. Wir müssen uns diesen Widersprüchen stellen. Der 9. November ist ein deutscher Nachdenktag. Aber als Nationalfeiertag eignet sich ein so problematisches Datum nicht. Der 3. Oktober 1990 ist wirklich der Tag deutschen Einheit und darum der richtige Feiertag.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%