IG Metall fordert Vorsorge Gegen den Stress bei der Arbeit

Die Digitalisierung verschärft die seelische Überforderung am Arbeitsplatz – egal ob am Fließband, im Büro und im Home-Office. Der volkwirtschaftliche Schaden ist enorm. Die IG Metall fordert eine Anti-Stress-Verordnung.

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Gewerkschaften fordern verstärkte Maßnahmen gegen Stress am Arbeitsplatz. Quelle: dpa

Berlin Müssen Arbeitnehmer wegen Arbeitsunfähigkeit zu Hause bleiben, ist die Ursache immer häufiger eine psychische Erkrankung. In nicht einmal 15 Jahren stieg die Zahl der Krankheitstage aufgrund psychischer Störungen um rund 160 Prozent auf 87 Millionen Fehltage. Den volkswirtschaftlichen Gesamtschaden beziffern Experten auf 17 Milliarden Euro im Jahr. Psychische Erkrankungen sind inzwischen auch die Hauptursache für Frühverrentungen.

Die IG Metall versucht deshalb schon seit einigen Jahren, die Politik dazu zu bewegen das Problem aufzugreifen. Denn sie ist davon überzeugt, dass viele dieser seelischen Erkrankungen am Arbeitsplatz entstehen oder durch schlechte Arbeitsbedingungen begünstigt werden. Anfangs wurde die Forderung von IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban, das deutsche Arbeitsschutzrecht durch eine Anti-Stress-Verordnung zu ergänzen, eher belächelt.

Nach dem Motto: Wie soll man denn mit Paragraphen etwas ausrichten gegen Burn-Out oder Depressionen. Schließlich hätten solche Erkrankungen ja meist ein ganzes Bündel von Ursachen, die oft gar nichts mit dem Job zu tun haben, sondern im privaten Umfeld zu verankern sind. Auch die Arbeitgeber versuchten das Thema herunterzuspielen. Da half es auch nicht, dass die IG Metall einen ausgearbeiteten Entwurf für eine solche Anti-Stress-Verordnung vorgelegt hat.

Inzwischen hat sich die Einschätzung jedoch geändert: So stellte der Bundestag bereits 2013 durch eine Ergänzung des Arbeitsschutzgesetzes klar, dass Risiken psychischer Belastungen in den „Gefährdungskatalog“ gehören, der bei der Beurteilung der Arbeitsbedingungen geprüft werden muss. Außerdem hat die große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten, dass sie die Lage erneut wissenschaftlich überprüfen lassen wolle, um danach die notwendigen Schritte zu veranlassen.

Der Bundesrat hat auf Initiative mehrerer SPD-Länder einen eigenen Verordnungsentwurf vorgelegt. Vergangenes Jahr hat sich sogar der Deutsche Juristentag mit großer Mehrheit des Anliegens der IG Metall angenommen und gefordert, eine entsprechende Verordnung zu erlassen.

Eine Initiative der Bundesregierung zu einer Anti-Stress-Verordnung ist trotzdem immer noch nicht in Sicht, klagte am Dienstag IG-Metall-Vorstand Urban am Rande einer Tagung mit 120 Arbeitsschutzexperten, zu der der Arbeitsminister von Nordrhein-Westfalen, Rainer Schmeltzer (SPD), nach Berlin eingeladen hatte. Dabei sei es allerhöchste Zeit. Urban ist überzeugt, dass die Digitalisierung der Wirtschaft die Probleme noch verschärfen wird.


Arbeitgeber müssen in die Pflicht genommen werden

Dabei wiesen schon jetzt alle wissenschaftlichen Ergebnisse darauf hin, dass zunehmender Termin- und Leistungsdruck, Arbeitsverdichtung, lange Arbeitszeiten und Schichtarbeit Risiken für die psychische Gesundheit darstellen. Ein neuer Trend, der durch die Digitalisierung gefördert werde, sie die Entgrenzung der Arbeitszeit. „Wir haben starke Anhaltspunkte dafür, dass die geltenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes, nach denen ein normaler Arbeitstag acht Stunden dauert und von einer Ruhepause von mindestens 11 Stunden gefolgt wird, ein sicherer Maßstab sind für gesunde Arbeitsbedingungen“, so NRW-Sozialminister Schmeltzer.

Diese Maßstäbe gerieten jedoch ins Rutschen, wenn am Wochenende oder in den Abendstunden Mails gelesen und beantwortet werden. Home-Office sei in vielen Fällen eine feine Sache für Mitarbeiter und Arbeitgeber, so Schmeltzer. „Ich erlaube das in meinem Ministerium auch. Ich habe nichts gegen Telearbeit.“ Home Office sei jedoch auch ein Einfallstor für Formen der Flexibilisierung der Arbeit, die am Ende krank machen.

Bei einer Beschäftigtenbefragung gaben Arbeitnehmer in Nordrhein-Westfalen drei Jahre hintereinander an, dass Arbeiten unter hohem Zeitdruck bei den psychischen Belastungen an erster Stelle steht. An zweiter Stelle rangiert die Verpflichtung, mehrere Dinge gleichzeitig tun zu müssen. Schlecht organisierte Arbeitsabläufe und Lärm, ob in Produktionshallen oder in Großraumbüros, machen danach genauso seelisch krank wie Konflikte mit Kunden oder hohe Verantwortung.

Studien belegen, dass die Gefahr psychischer Erkrankungen in vielen Betrieben noch nicht ernst genommen wird. In Kleinunternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten berücksichtigen nur sieben Prozent mögliche psychische Gefährdungen am Arbeitsplatz. Selbst bei großen Betrieben mit über 250 Arbeitnehmern tun das nur 23 Prozent. Viele Unternehmen verzichten ganz auf eine solche Gefährdungsbeurteilung. In Nordrhein-Westfalen gilt das nach einer Betriebsbefragung aus dem Jahr 2015 für jedes zweite Unternehmen.

Dagegen hilft nach Ansicht Urbans nur eine Rechtsverordnung, wie es sie für Lärmschutz, Gefahrstoffe oder mangelnde Beleuchtung selbstverständlich gibt. Und was soll da drin stehen? Vor allem die Pflicht für jeden Arbeitgeber, die Bedingungen am Arbeitsplatz auf mögliche Gefährdungen für die seelische Gesundheit zu untersuchen. Folgt man dem Entwurf der IG Metall kommen auch noch eine Reihe von Pflichten des Arbeitgebers ins Gesetz. So sieht der § 6 des Entwurfs die Verpflichtung des Arbeitgebers vor, die Arbeitsaufgaben so zu gestalten, dass sie die Arbeitnehmer weder unter- noch überfordern. Und: „Das Arbeitspensum ist so zu gestalten, dass es bei menschengerechter Gestaltung der Arbeit auf Dauer eines Arbeitslebens ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erbracht werden kann.“ Versteht sich eigentlich von selbst, sollte man meinen.

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