Illner-Talk zum Arbeitsmarkt „Haben wir das beschlossen?“

Talkmasterin Maybrit Illner lässt Bürger mit Politikern über die Probleme des Arbeitsmarkts diskutieren. Die Sendung kratzt nur an der Oberfläche, zeigt aber vor allem eins: Die Politiker leben in einer anderen Welt.

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In der Talkshow von Maybrit Illner erklärt die Gebäudereinigern Christel Wellmann (li.), dass sie trotz dreier Jobs nur auf 1.000 Euro netto im Monat kommt. Sie gehe trotzdem täglich zur Arbeit, weil ihr die Arbeit Spaß mache. Quelle: ZDF und Jule Roehr

Berlin Christel Wellmann ist Gebäudereinigerin, 58, und kommt trotz drei Jobs gerade einmal auf 1.000 Euro netto. Es wirkt ein wenig zynisch, als Maybrit Illner sie fragt, wie sie es denn schaffe, sich jeden Morgen dazu zu motivieren, zur Arbeit zu gehen. Wellmanns simple Antwort: Die Arbeit mache ihr Spaß. Auch CDU-Politiker Jens Spahn sagt später, er habe „Wahnsinnsrespekt“ vor Wellmann, dass sie jeden Tag aufstehe und zur Arbeit gehe, da sie mit Hartz IV ja in etwa auf dasselbe rauskommen würde.

Szenen wie diese stehen für die Stärke der Sendung, durch die Illner am Donnerstagabend unter dem Motto „Viel Arbeit, wenig Geld – lohnt sich Leistung heute?“ führte. Acht „engagierte Bürger“ hatte Illner eingeladen, um mit Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und Spahn (CDU) „auf Augenhöhe“ zu diskutieren.  Mehr als einmal wurde dabei die Diskrepanz zwischen der Lebensrealität der normalen Bürger und der Politik entlarvt.

Spahn und Nahles hörten den Erlebnissen der geladenen Bürger zwar aufmerksam zu, nutzten sie aber allzu oft lediglich als Vorlage für Wahlkampfplattitüden. Zum Beispiel im Fall von Maik Sosnowsky, 37: Er arbeitet als Blutbote für eine Tochterfirma der Berliner Charité und kommt nur auf 1.350 Euro netto im Monat, weil die Charité durch die Auslagerung in eine private Tochterfirma die Tariflöhne des öffentlichen Dienstes umgeht. Daher müsse er sein Gehalt aufstocken. „Es kann doch nicht sein, dass der Staat prekäre Arbeit auch noch subventioniert“, sagt Sosnowsky. Er berichtet zudem, selbst Unternehmen in Landesbesitz wie die Charité würden mit privaten Tochterfirmen „Karussell spielen“, um Leiharbeiter nicht länger als neun Monate zu beschäftigen – denn sonst müssten sie ihnen laut Gesetz den gleichen Lohn zahlen wie den Tarifangestellten. Spahn fällt dazu zunächst nichts Besseres ein als darauf zu verweisen, dass die Charité ja unter Verantwortung der rot-rot-grünen Berliner Landesregierung stehe und die offenbar große Reden zur sozialen Gerechtigkeit schwinge, aber sich selbst nicht daran halte. Illner ermahnt ihn: Dies sei eine Sendung für Erwachsene und er solle doch bitte auf die Sache eingehen.

Andrea Nahles schlägt sich zwar insgesamt besser, kommt jedoch auch sichtlich in Bedrängnis, als Dennis von der Becke, 23, Heilerziehungspfleger in Ausbildung, seine Erlebnisse mit dem Jobcenter schildert. Seine Mutter sei auf Hartz IV angewiesen, seit seinem 18. Geburtstag habe er Amtsgänge für sie übernommen. In Jobcentern werde ein unverhältnismäßiger Druck aufgebaut, der Umgang mit Arbeitssuchenden sei teilweise „menschenverachtend“, klagt er. Er habe dort auch keinerlei sinnvolle Beratung für seine berufliche Zukunft erhalten. Nahles versucht sich mit Phrasen durch das Thema zu lavieren: In diesem Fall sei das wohl nicht so gut gelaufen, aber viele Jobcenter würden eine gute Arbeit leisten. Von der Becke beharrt, es gehe nicht darum ein Pauschalurteil zu fällen, aber es seien eben auch keine Einzelfälle. Und wenn in den Jobcentern etwas schief laufe, gehe es um Existenzen. Da müsse es doch ein zwischengeschaltetes Kontrollorgan geben, an das sich Betroffene wenden könnten.

Als letzter Gast ist Christine Finke in der Sendung. Die 50-Jährige ist Mutter von drei Kindern und freiberufliche Autorin. Nach der Scheidung habe ihr Mann keinen Unterhalt gezahlt und als alleinerziehende Mutter habe sie keinen festen Job gefunden. „Als Alleinerziehende bin ich für Unternehmen ein unkalkulierbares Risiko“, stellt sie nüchtern fest. Sie fordert anonyme Bewerbungen und eine Alleinerziehendenquote. Außerdem kritisiert sie unnötige Vorgaben im Jugendschutzgesetz – zum Beispiel dürfe ihre 16-jährige Tochter nach 20 Uhr nicht allein babysitten. Spahn reagiert erstaunt. „Haben wir das beschlossen?“, fragt er in Nahles‘ Richtung.

Auch wenn die Sendung insgesamt wegen der Vielzahl der geladenen Bürger nur an der Oberflächliche kratzt, zeigt sie einige unangenehme Wahrheiten auf. Zum Beispiel, dass die niedrige Arbeitslosenquote und die sogenannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes für viele Bürger nicht viel mehr als schöner Schein sind. Illners Ziel, den Arbeitsmarkt 2017 durch die eingeladenden Erwerbstätigen plastischer zu machen als über reine statistische Kennzahlen, ist zumindest im Ansatz gelungen.

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