Muss ein islamischer Prediger einer deutschen Lehrerin die Hand geben? Sollte das Jugendamt für eine minderjährige syrische Ehefrau die Vormundschaft übernehmen? Die Frage, wie viel Rücksicht deutsche Institutionen für die Rechtstraditionen und religiösen Überzeugungen von Zuwanderern aufbringen sollten, gewinnt durch die Ankunft von Hunderttausenden mehrheitlich muslimischen Flüchtlingen aus Afrika, Nahost und Afghanistan an Bedeutung.
„Das ist eine Frage, die in unserer Community zur Zeit heiß diskutiert wird“, sagt der Vorsitzende der palästinensischen Gemeinde in Hannover, Yazid Shammout. Er meint: „Wir brauchen Toleranz von beiden Seiten.“ Gleichzeitig warnt er vor einem „falsch verstandenen Liberalismus“, der in einigen Städten schon vor Jahren zur Entstehung von Parallelgesellschaften beigetragen habe, „wo man mit Deutschen kaum noch in Berührung kommt“. Auch von Flüchtlingen könne man ein Mindestmaß an Anpassung erwarten, sagt Shammout, der einst selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Er sagt: „Eine Flucht ist nie freiwillig, aber diese Menschen haben sich bewusst für Deutschland entschieden und nicht etwa für Jordanien und die Türkei.“
Für große Aufregung sorgte im Mai ein Urteil des Oberlandesgerichts Bamberg. Es hatte entschieden, dass das Jugendamt der Stadt Aschaffenburg nicht über den Aufenthaltsort einer 15-jährigen Syrerin entscheiden darf. Das Mädchen war als 14-Jährige mit ihrem volljährigen Cousin verheiratet worden, obwohl Syrerinnen in ihrem Heimatland eigentlich erst mit 17 Jahren als ehemündig gelten. Die Ehe sei trotzdem wirksam, urteilte das Gericht.
Asylanträge nach Bundesländern 2017
Nirgendwo sonst wurden so vielen Asylanträge gestellt wie in Nordrhein-Westfalen. In der ersten Jahreshälfte 2017 waren es bisher 32.122 Menschen.
Hinweis: Alle Daten beziehen sich auf Erst- und Folgeanträge in den Monaten Januar bis Juni 2017.
Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge / Statista
Stand: August 2017
12.921 Menschen haben in der ersten Hälfte des Jahres 2017 in Bayern einen Asylantrag gestellt.
In Baden-Württemberg wurden 2017 bisher 11.290 Asylanträge gestellt.
In Niedersachsen stellten 10.003 Menschen im Januar bis Juni 2017 einen Antrag auf Asyl.
In Rheinland-Pfalz beantragten 2017 bislang 7.610 Menschen Asyl.
In Hessen stellten in den ersten sechs Monaten 2017 7.508 Bewerber einen Asylantrag.
In Berlin wurden von Januar bis Juni 2017 5.535 Anträge auf Asyl gestellt.
Bis Mitte 2017 stellten 4.205 Menschen einen Asylantrag in Sachsen.
3.346 Asylanträge verzeichnet Schleswig-Holstein für die ersten sechs Monate 2017.
Einen Asylantrag in Sachsen-Anhalt stellten bis Juni 2017 3.304 Menschen.
Asyl in Brandenburg beantragten in der ersten Jahreshälfte 3.162 Menschen.
In Thüringen wurden in den Monaten Januar bis Juni 2017 3.049 Asylanträge gestellt.
In Hamburg stellten bis Ende Juni 2017 2.633 Menschen einen Antrag auf Asyl.
In Mecklenburg-Vorpommern stellten 2.104 Menschen einen Asylantrag (Januar bis juni 2017).
Bis Juni 2017 stellten im Saarland 1.538 Menschen einen Asylantrag.
In Bremen beantragten bis Ende Juni 1.192 Menschen Asyl.
Bei 94 Asylanträgen bis Mitte 2017 ist das Bundesland, in dem der Antrag gestellt wurde, anscheinend unbekannt.
„Dieses Urteil finde ich sehr bedenklich, denn dadurch wird der Rechtsstaat ausgehöhlt“, sagt Shammout. Die Stadt Aschaffenburg hat gegen das OLG-Urteil inzwischen Beschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt. Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) will eine Gesetzesänderung, die festlegt, dass sich die Ehemündigkeit alleine nach deutschem Recht richten soll. In Deutschland gilt das Mindestalter 18 Jahre - nur in Ausnahmefällen und mit Zustimmung eines Familiengerichts dürfen auch schon 16-Jährige heiraten.
Der Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa, Mathias Rohe, schlägt vor, dass im Ausland geschlossene Ehen grundsätzlich erst ab 18 Jahren anerkannt werden, „weil wir in vielen anderen Staaten nicht die Gewissheit haben, dass die Erziehungsberechtigten oder der Staat ausschließlich das Wohl der Minderjährigen im Blick haben, wenn sie einer solchen Heirat zustimmen“.
Friedliches Zusammenleben?
Viel Staub hat zuletzt auch der Fall des schiitischen Imams Kerim Ucar aus Berlin aufgewirbelt, der einer Lehrerin seines Sohnes aus religiösen Gründen nicht die Hand geben wollte. Diese brach daraufhin das Gespräch ab. Der Imam sah sich in seiner Religionswürde verletzt. Schließlich entschuldigte sich die Schule bei ihm. „So etwas sind unnötige, lästige Konflikte“, sagt Ercan Karakoyun.
Er ist Vorsitzender der Stiftung Dialog und Bildung. Die Stiftung gehört zur Bewegung des türkischen Predigers Fethullah Gülen. Karakoyun sagt: „Eine ausgestreckte Hand solle man nie zurückweisen.“
Um ein paar schrille Töne reicher ist die Debatte um Zuwanderung, Identität und Wertvorstellungen seit den massenhaften Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht. Der aus Syrien stammende Politologe Bassam Tibi behauptete in diesem Zusammenhang kürzlich in einem Interview der „Basler Zeitung“: „Deutschland ist unfähig, eine Hausordnung für das friedliche Zusammenleben anzubieten.“
Das Asylpaket II
Die Vorsitzenden der Koalitionsparteien haben mit ihrer Einigung am Donnerstag den Weg für das Asylpaket II freigemacht. Die Inhalte des Gesetzesvorhabens im Überblick (Quelle: Reuters).
Aufnahmezentren: Kern des Pakets sind spezielle Aufnahmezentren, von denen bundesweit drei bis fünf entstehen sollen. Auf diese hatten sich die Parteichefs bereits im November als Kompromiss im Streit um die von der Union geforderten Transitzonen verständigt.
In den Zentren sollen bestimmte Gruppen von Asylbewerbern Schnellverfahren durchlaufen. Dazu gehören Menschen aus sicheren Herkunftsländern, mit Wiedereinreisesperren oder Folgeanträgen. Aber auch Asylsuchende, die keine Bereitschaft zur Mitwirkung zeigen, falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht oder Dokumente mutwillig vernichtet haben, sollen darunter fallen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll über ihre Anträge vor Ort innerhalb von einer Woche entscheiden. Inklusive eines möglichen Widerspruchs vor dem Verwaltungsgericht soll das Verfahren innerhalb von drei Wochen beendet sein. Abgelehnte Asylbewerber sollen möglichst direkt aus den Einrichtungen zurückgebracht werden.
Für die Dauer des Verfahrens und gegebenenfalls bis zur Ausreise sind die Personen verpflichtet, sich nur im Bezirk der jeweiligen Ausländerbehörde aufzuhalten. Bei Verstößen riskiert der Asylbewerber, dass sein Verfahren eingestellt wird.
Für Flüchtlinge mit dem geringsten subsidiären Schutz soll der Nachzug von Familienmitgliedern für zwei Jahre ausgesetzt werden. Dabei handelt es sich um Personen, die nicht unmittelbar persönlich verfolgt sind und deshalb weder Schutz als Flüchtling noch nach dem Asylrecht erhalten. Wenn ihnen dennoch im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht, wird ihnen der subsidiäre Schutz zuerkannt.
Die Einschränkung des Familiennachzugs für diesen Personenkreis war zum Schluss der Hauptknackpunkt. Die SPD hatte eigentlich erreichen wollen, dass Syrer von der Regelung ausgenommen werden, was die CSU aber nicht mitmachte. Der Kompromiss sieht nun vor, dass innerhalb künftiger Kontingente von Flüchtlingen, die der Türkei, dem Libanon oder Jordanien abgenommen werden, "der Familiennachzug zu bereits in Deutschland lebenden Flüchtlingen vorrangig berücksichtigt" werden soll.
Erst zum 1. August vergangenen Jahres waren subsidiär Schutzbedürftige beim Familiennachzug anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt worden, wodurch sie in der Regel Ehepartner und Kinder nachholen dürfen. Nach Ablauf der zwei Jahre soll diese Rechtslage automatisch wieder in Kraft treten.
Flüchtlinge müssen sich künftig an den Kosten von Sprach- und Integrationskursen mit zehn Euro im Monat beteiligen. Der Betrag wird ihnen von den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abgezogen.
Generell sollen Abschiebungen erleichtert werden. Die Bundesregierung will dazu die Rahmenbedingungen für ärztliche Atteste präzisieren, mit denen Flüchtlinge ihre Abschiebung verhindern können. Einem Gesetzentwurf von Mitte Januar zufolge sollen grundsätzlich nur lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, die Rückführung verhindern können. Eine ärztliche Bescheinigung muss künftig bestimmten Kriterien entsprechen, um die Erkrankung glaubhaft zu machen.
In einem weiteren Gesetz soll mehr Rechtssicherheit für Flüchtlinge, die eine Lehre in Deutschland machen und ihre Ausbildungsbetriebe geschaffen werden. Laut Vizekanzler Sigmar Gabriel soll ein Migrant nach der Ausbildung unabhängig von seinem Status zwei Jahre in Deutschland arbeiten können. Das Alter, bis zu dem Flüchtlinge eine Lehre aufnehmen dürfen, werde von 21 auf 25 heraufgesetzt.
Marokko, Tunesien und Algerien sollen per Gesetz zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden. Die Asylverfahren für Personen aus diesen Ländern werden dadurch beschleunigt. Die Regelung soll aber nicht ins Asylpaket aufgenommen werden, weil es sonst die Zustimmung des Bundesrats benötigen würde, wo Union und SPD keine eigene Mehrheit haben.
Der Autor und Ahmad Mansour („Generation Allah“) beschwerte sich in einem Gastbeitrag für die „taz“, er werde neuerdings von Linken und Anhängern der Grünen angefeindet, weil er die „konfessionelle Enge“ der islamischen Gemeinden hierzulande beklage. Mansour empörte sich: „Ein Netzwerk von deutschen Links-liberalen und Grünen „beschützt“ eine Mehrheit der Muslime in Deutschland vor einer Minderheit ihrer muslimischen Kritiker. Was ist daran links, was progressiv?, frage ich mich. Und: Seid ihr noch bei Trost? Oder sind wir eure Kuscheltiere geworden.“
Politiker, die sich mit Integration beschäftigen, weisen oft darauf hin, wie wichtig es sei, Zuwanderern möglichst rasch nach ihrer Ankunft zu erklären, welche Regeln für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland gelten und was von ihnen erwartet wird. „Bei vielen Flüchtlingen aus der islamischen Welt stellt sich ganz früh schon ein Gefühl der Angst um die religiöse und kulturelle Identität ihrer Kinder ein.
Asylsuchende in Deutschland
Die beim Bamf eingegangenen Asylgesuche bilden die einzige gesicherte Zahl. Im Gesamtjahr 2015 waren das 476.649 und damit rund 273.800 oder 135 Prozent mehr als 2014. Die bisherige Rekordzahl liegt 23 Jahre zurück: Unter anderem als Folge der Balkan-Kriege gab es 1992 438.200 Asylanträge.
Hauptherkunftsländer der Antragsteller waren 2015 Syrien (162.510), Albanien (54.762), Kosovo (37.095), Afghanistan (31.902) und Irak (31.379). Nimmt man noch Serbien (26.945) und Mazedonien (14.131) hinzu, kamen rund 133.000 Asylanträge aus vier der sechs Westbalkan-Länder, die 2014 und 2015 zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden.
Eingereist sind 2015 weitaus mehr Flüchtlinge und Asylbewerber. Das zeigt die Datenbasis zur Erstverteilung von Asylsuchenden (Easy), in der Schutzsuchende registriert werden, um nach einem festgelegten Schlüssel auf die einzelnen Bundesländer verteilt zu werden. Dort wurden laut Innenministerium 2015 rund 1,092 Millionen Zugänge registriert. Darunter waren rund 428.500 Syrer (rund 40 Prozent). Während die Neuzugänge bis November jeden Monat deutlich stiegen, gingen sie im Dezember zurück auf 127.300 nach 206.100 im Vormonat.
Die Easy-Zahl übersteigt die Asylanträge, weil viele Asylsuchende schon vor dem Asylantrag von den Ländern an die Kommunen weitergeleitet werden, da die Kapazitäten der Erstaufnahmeeinrichtungen erschöpft sind. Der formale Asylantrag kann sich daher um Wochen verzögern. Eine unbekannte Zahl der bei Easy Registrierten nutzt Deutschland auch nur als Durchgangsstation etwa auf der Reise nach Skandinavien.
Das Bundesamt für Migration entscheidet zwar über mehr Anträge als im vorigen Jahr. Doch mit dem raschen Zustrom der Flüchtlinge hält es nicht Schritt. Laut Bilanz für 2015 wurden 282.726 Entscheidungen getroffen, mehr als doppelt so viele wie 2014. Davon erhielten 48,5 Prozent den Flüchtlingsstatus laut Genfer Konvention zuerkannt und dürfen damit in Deutschland bleiben. Davon wiederum wurden 2029 (0,7 Prozent aller Entscheidungen) als Asylberechtigte nach Artikel 16a des Grundgesetzes anerkannt. Von den entschiedenen syrischen Anträgen wurden 95,8 Prozent als Flüchtlinge anerkannt. Für Albaner, Kosovaren und Serben lag die Quote bei null Prozent.
Die Zahl der noch nicht entschiedenen Anträge stieg bis Ende 2015 auf 364.664. Hinzu kommt eine nicht bezifferbare Zahl von Flüchtlingen, die bereits registriert sind, deren Asylantrag aber noch nicht erfasst wurde. Der Antragsrückstau ist eines der größten Probleme. Das Bamf hat daher für 2016 4000 weitere Stellen bewilligt bekommen, wodurch die Mitarbeiterzahl auf etwa 7300 steigt. Bamf-Chef Frank-Jürgen Weise, der auch Chef der Bundesagentur für Arbeit ist, zeigte sich am Dienstag zuversichtlich, dass die 4000 neuen Beschäftigten „im besten Fall bis Mitte des Jahres qualifiziert im Einsatz“ seien.
Als ersten Erfolg werten das Bamf und das Innenministerium, dass sich die Verfahrensdauer für Syrer verkürzt hat. Sie stieg nach Angaben des Innenministeriums von 3,5 Monaten (Januar 2015) zunächst auf 4,3 Monate (Juni), sank bis Dezember aber auf 2,5 Monate. Für Antragssteller, die seit Jahresbeginn 2016 eingereist sind, könnte es wieder länger dauern: Für sie gilt wieder die Einzelfallprüfung mit persönlicher Anhörung durch den sogenannten Entscheider.
Sie fragen sich zum Beispiel, ob ihr Kind mitfahren soll auf die Klassenfahrt - im Prinzip sind das die gleichen Fragen, mit denen sich auch ein Teil der muslimischen Zuwanderer früherer Generation befasst“, berichtet ein türkischstämmiger Kulturmittler aus München.
Der Experte, der in München Flüchtlingshelfer schult, sagt: „In vielen Flüchtlingsheimen kursieren leider negative Bilder über Deutschland - auch in Bezug auf Assimilation“. Diese Ansichten würden meist von einigen wenigen Hardlinern verbreitet. Dagegen anzukommen sei für Sozialarbeiter und Ehrenamtliche oft nicht leicht.