Erst das Vergnügen, dann die Arbeit: Für Jürgen Trittin beginnt das Vergnügen an diesem Tag in Osnabrück mit glasig-zartem Steinbutt und setzt sich beim innen noch roten Rindfleisch fort, gegart bei niedriger Hitze. Außerdem sitzt ihm Jürgen Großmann gegenüber. Der ist Stahlunternehmer und war Chef des Energiekonzerns RWE. Ihm gehört das Lokal „La Vie“ mit Drei-Sterne-Küche, in dem die beiden nun sitzen. Gleich wird Trittin die nahe Georgsmarienhütte besuchen und nach Materialkreisläufen, Wiederverwertung und Stromausfällen fragen. Die Stahlwerker werden stolz sagen, dass ein möglicher Bundesminister zu Besuch ist.
Wie bitte? Der linke Fraktionschef der Grünen im Bundestag und der raumgreifende Unternehmer auf Kuschelkurs? Eine alte wie bewährte Bekanntschaft, versichern beide Seiten. Die beiden Jürgen verbindet die sportliche Freude am Kräftemessen, wie es Trittin ausdrückt. Großmann nannte Trittin früher einen „Wolf im Schafspelz“, dieser lobte ihn sarkastisch als „Großmeister des Lobbyismus“, der sein Privatinteresse gegen das der Allgemeinheit durchsetze. Beste Voraussetzungen also für gute Zusammenarbeit.
Der Tag in Osnabrück ist ein weiterer Beleg für die Metamorphose des 58-jährigen Trittin, der sich selber Schritt für Schritt zum grünen Ansprechpartner für die Wirtschaft aufbaut. Einen dosierten Hang zum Luxus verzeihen ihm seine Grünen längst. In seiner Partei ist er unangefochten. Bei der Urwahl, mit der die Partei ihre Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl heute gekürt hat, lag er weit vorne: Über 70 Prozent der Mitglieder stimmten für ihn. Die Frau, mit der er sich Parteiregeln zufolge den Job teilen muss, ist Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt. Sie erhielt knapp 47 Prozent der Stimmen.
Ehemals alternative Partei mit nun bürgerlichen Wählern
Die künftige Politik der ehemals alternativen Partei mit nun bürgerlichen Wählern wird Trittin bestimmen. Bekannt ist, dass er nach der Bundestagswahl in einer rot-grünen Regierung gerne den Job des Bundesfinanzministers übernehmen würde. Er will unbedingt wieder regieren und bringt seine Partei auf Unterstützerkurs.
Es ist seine zäh erkämpfte Chance nach ganz oben. Die Konkurrenten aus seiner Generation sind gestutzt oder fort. Joschka Fischer verdient prächtig als Unternehmensberater am Berliner Gendarmenmarkt. Künast ist geschwächt durch ihren erfolglosen Wahlkampf in Berlin. Vordenker Fritz Kuhn entfloh als OB nach Stuttgart. Die Jungen trauen sich noch nicht.
Was die Grünen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik durchsetzen wollen
Die Grünen fordern eine europäische Bankenaufsicht, die auf nationale Kontrollbehörden und Kreditinstitute durchgreifen kann. Allerdings würde das auch eine gemeinschaftliche Haftung bedeuten.
Wie von den „Fünf Wirtschaftsweisen“ vorgeschlagen, will Trittin für Verbindlichkeiten der Euro-Länder einen Schuldentilgungsfonds aufbauen. Die Staatsverschuldung der Euro-Staaten soll so auf 60 Prozent der Wirtschaftsleistung gedrückt werden, wie es der Maastricht-Vertrag vorsieht. Darüber hinausgehende Verbindlichkeiten sollen in einen Tilgungsfonds mit gemeinschaftlicher Haftung ausgelagert werden.
Gemeinsame Bonds der Euro-Länder sollen es hoch verschuldeten Staaten der Währungsunion leichter machen, an neues Geld zu gelangen. Deutschland und andere stabile Länder würden dann allerdings mit höheren Zinsen und gemeinsamer Haftung einstehen müssen.
Zum Schuldenabbau sollen nach dem Willen der Grünen reiche Privatleute mit einem Vermögen ab einer Million Euro sowie Privatunternehmer ab fünf Millionen Euro jährlich 1,5 Prozent zusätzlich abgeben. Die Grünen betrachten dies als Beitrag der Reichen, deren Wohlstand die Steuerzahler in der Bankenkrise gesichert hätten.
Die Grünen fordern einen Spitzensteuersatz von mindestens 45 Prozent, Jürgen Trittin will sogar 49 Prozent durchsetzen.
Weiter Weg
Der Prokuristensohn aus Bremen hat einen weiten Weg hinter sich. Während des Studiums in Göttingen probte er mit dem Kommunistischen Bund (KB) den gesellschaftlichen Umsturz und besetzte Häuser. Andere ergraute Aufmüpfige sagen, sie wollten damals doch nur spielen. Nicht Jürgen Trittin. Er sei, sagt er, immer schon konservativ gewesen und habe deshalb nur alte Bürgerhäuser vor dem Abriss bewahren wollen: „Es war illegal, aber heute freut sich das Fremdenverkehrsamt.“ In Dialektik war er immer stark.
Mit den Grünen gelangte er in Niedersachsen 1990 an die Regierung, mit jenem Gerhard Schröder von der SPD, mit dem er auch im Bund ab 1998 koalierte. Trittin war der durchsetzungsstärkste grüne Minister, arbeitete seine Agenda vollständig ab – oft auf Kosten der (Volks-)Wirtschaft. Er beglückte die Republik mit dem Dosenpfand. 2000 handelte er mit den Energiekonzernen den ersten Atomausstieg aus. Und er erfand das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), worauf er bis heute am meisten stolz ist. 2004 verkündete Trittin, für einen Durchschnittshaushalt werde das EEG monatlich nicht teurer als eine Kugel Eis. Tatsächlich sind es sieben Euro, bald zehn. Heute erkennt er an, dass speziell die Solarförderung grotesk unwirtschaftlich ist, will aber nichts Grundsätzliches ändern. Ist es praktizierter Konservatismus am eigenen Denkmal - oder Lernunfähigkeit?
Politischer Rammbock
In der rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder stand er mehrmals kurz vor dem Rauswurf. Damals spielte er den politischen Rammbock, verhinderte manchen Konsens mit Hohn und Galle. Einmal sprang ihm in höchster Not sogar seine Mutter öffentlich zur Seite, ihm, der sonst sein Privatleben samt Lebenspartnerin, angenommener Tochter und Enkelin strikt abschirmt. Mutter Helene beschrieb den Sohn als friedliebend und den Mitmenschen zugewandt.
Sein Wandel begann nach der verlorenen Bundestagswahl 2005. Er fing in der Opposition wieder ganz unten an, unterlag bei der Wahl zum Fraktionschef. Der Ex-Umweltminister wurde Fraktionsvize für Außenpolitik. 2009 setzte er sich dann doch als Fraktionschef durch. Trittin besetzt seither die Finanz- und Europapolitik. Staatsverschuldung und Euro-Krise bestimmen die Politik auf Jahre, ein Finanzminister ist mächtiger als ein Außen-Ressortchef. Eigene Ideen hat er nicht geliefert, vehement fordert er Euro-Bonds, als wäre das jetzt endlich das Enteignungsinstrument für die bürgerliche Klasse, dass er in der Sturm- und Drangzeit nie in die Hand bekam.
Thea Dückert, ehemals Grünen-Wirtschaftsexpertin im Bundestag, kennt Trittin seit den Achtzigerjahren – und sie kennt sein Kalkül, sich Themen zu suchen, die Macht versprechen. „Das ist sicher ein Grund, warum er heute auch inhaltlich bei den Grünen unangefochten ist.“ Er stehe eher links, allerdings habe er nun mildere Züge angenommen.
Sehr verlässlich
Widersprüche pflastern seinen Weg. Altkanzler Schröder lobt den damals unpopulärsten Minister als sehr verlässlich. Ähnliches hört man rund um den Unternehmer Großmann: Ja, verlässlich sei er, und offen – zumindest hinter verschlossenen Türen.
Trittin ist machtbewusst und doch notorisch widerspenstig. Privat feinsinnig und politisch schneidend. Selbst langjährige Weggefährten werden selten schlau aus seinen zwei Gesichtern. So stieß er Parteifreunde, mit denen er sich privat gut verstand, bei Konflikten vor den Kopf, bekämpfte sie erbittert. Würden sich Grüne nicht berufsmäßig duzen, wäre das eisige „Sie“ Umgangston geworden.
Respekt
Manche, die unter Trittin zu leiden hatten, erinnern sich: „Früher hat er öfter rumgebrüllt und war aufbrausend.“ Doch sei er nicht immer mutig gewesen. „Jürgen hat sich in schwierigen Situationen erst mal nicht festgelegt.“ Wenn es heikel wurde, etwa als die Grünen 1999 Kampfeinsätze im Kosovo mittragen sollten, musste Joschka Fischer die Partei überzeugen. Trittin wollte das linke Lager, das ihm Mehrheiten beschaffte, nicht verärgern.
Doch Parteileute zollen auch Respekt – trotz mancher Jürgen-Wunden: „Er ist moderater und moderierend geworden. Er hat sich mit diesem Land versöhnt.“ Früher habe er die Bundeswehr abgelehnt. „Heute ärgert er sich über andere, die das tun.“
Kalkulierend und fleißig
Wohl machte ihn auch ein Herzinfarkt milder, den er Anfang 2010 erlitt. Ein Schock, dass er, der Schlanke, der Sportliche, seiner Veranlagung nicht davonlaufen konnte. Schnell war Trittin wieder fit, muss aber Medikamente schlucken.
Trittin ist kalkulierender Fleißarbeiter. Dazu gehört die Tingelei bei Wirtschaftsverbänden. Bisher luden die eher Parteichef Cem Özdemir ein, weil der eine verträgliche Mischung aus Ökoschauer und Bürgerlichkeit bot. Doch nun drängt sich Trittin an die Rednerpulte und Mittagstische der Wirtschaftsleute. Er will die Macht, und die Funktionäre suchen den Kontakt zum vielleicht bald Mächtigen, selbst die Energie- und Grünenfresser vom Stahlverband. Bei der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) war er im Oktober erstmals zu Gast.
Dort trat er mit schmalem, dunkelblauem Anzug samt dezent gestreiftem Binder auf; nur die störrische Strähne hoch über der Stirn hüpfte aus der Reihe. Trittin zeigte sich schneidend, schlau und seriös – nur nicht sympathisch. Er verlangte den Mindestlohn und eine Vermögensabgabe. Stotternde Energiewende? Schuld seien die etablierten Erzeuger, die den Umstieg torpedierten, und die Regierung, die durch zahlreiche Ausnahmen für die Industrie alles verteuere. Er nutzte den Auftritt zum „offenen Schlagabtausch“, als Schaukampf für die eigenen Wähler, dass er sich nicht zu sehr anpasst.
Kontrollierter
Doch bei all den Nadelstichen wirkt er weitaus kontrollierter als früher. Und beim Verband deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) war das Publikum ihm sogar zum Teil gewogen – schließlich verdienen viele Maschinenbauer an der staatlich verordneten Energiewende prächtig mit. Trittin, der keinen Führerschein besitzt und Staus auf der Autobahn früher als „kostenlose Lagerhaltung“ verspottete, outete sich vor den Unternehmern als technikbegeistert. Er lasse keine Hannover Messe aus, twittere eifrig und habe zu Hause allerlei neuestes Technikspielzeug. Der Rad fahrende Fraktionschef verkündete: „Wir waren immer stolz auf unsere Infrastruktur.“ Doch in Deutschland fehle Geld für Beton und Teer. „Wir können ja nicht mal mehr Straßen und Brücken erneuern.“
So gezähmt Trittin auftritt – sein Blick, stur an einen Punkt kurz oberhalb des Publikums geheftet, und der oft spöttisch verzogene Mund verraten nach wie vor Distanz. Nach der Rede beim VDMA lud ihn der Geschäftsführer der schwäbischen ebm-papst-Gruppe, Rainer Hundsdörfer, an seinen Stand und führte die neuesten Recyclinggehäuse für Ventilatoren vor. Der Firmenchef sieht Trittin nüchtern: „Die Kluft ist nicht mehr so groß.“ Energiesparen sei in der Industrie längst Standard. Die Ökopartei habe sich umgekehrt angenähert. „Die Grünen können auch rechnen.“
Er schätzt Merkel als schnörkellos und rational
Ist am Ende mit Trittin sogar eine schwarz-grüne Koalition in Berlin denkbar? An Trittin würde ein solches Bündnis weniger scheitern als an seiner Parteibasis. Er schätzt Angela Merkel als schnörkellos und rational. Gemeinsam haben sie, dass ihnen in ihrer Partei lange nicht der Platz ganz vorne zugedacht war.
Jetzt ist der Gehäutete dort angekommen und zeigt, wie unterschiedlich zur CDU sich Führungsleute der Grünen behaupten müssen. So blitzt immer noch der Reichenschreck von ganz früher durch. Neulich ließ er mal wieder Sätze wie diesen los: „Ein verschuldeter Staat zahlt den Leuten Zinsen, bei denen er sich vorher ordentliche Steuern nicht getraut hat.“ Peng. Ein bisschen Rabatz wird doch wohl erlaubt sein.