Juli Zeh "Es ist fatal, wenn Menschen sich von der Politik abwenden"

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"In jeder Gesellschaft gibt es Ausländerfeinde"

Welche Folgen befürchten Sie?
Es ist fatal, wenn die Menschen sich innerlich abwenden und sagen: „Ich will mit diesem System eigentlich gar nichts zu tun haben. Die Politik wird nicht für mich gemacht, keiner interessiert sich für mich.“ Der Rückzug in die private Existenz ist der Anfang vom Ende der Demokratie.

Sie sind in Bonn geboren und leben mittlerweile seit über 20 Jahren im Osten. Haben Sie die massiven Proteste gegen Flüchtlinge überrascht?
Nein, überhaupt nicht. In jeder Gesellschaft gibt es Ausländerfeinde. Und ich habe in Leipzig selbst oft miterlebt, dass weder Polizei noch Politik etwas gegen Rechtsradikalismus unternehmen. Jahrelang war das angewandte Ignoranz.

Viele Politiker tun aber so, als handele es sich um ein neues Phänomen.
Das ist der Inbegriff der Heuchelei. Viele Städte in Ostdeutschland, speziell in Sachsen, sind schon seit der Wende so krass durchdrungen von rechtsradikalen Strukturen, dass wirklich kein Mensch jetzt überrascht sein muss.

Aber trotzdem sprechen viele von der deutschen Willkommenskultur.
Über die wunderbare Hilfsbereitschaft vieler Menschen wird inzwischen viel zu wenig gesprochen. In der Flüchtlingskrise hat sich auch viel Positives gezeigt. Schade, dass die negativen Bilder den Blick darauf verstellen. Die AfD ist ein Problem, aber sie repräsentiert nicht die Mehrheit in Deutschland.   

Müssen wir Angst vor einer (rechten) Parallelgesellschaft haben?
Wenn man von Parallelgesellschaft spricht, tut man so, als gäbe es da eine ganz klare Grenze: auf der einen Seite Menschen mit Nazi-Etikett auf der Stirn, auf der anderen Seite die guten Bürger. Viel schlimmer ist, dass inzwischen Leute rechte Parteien wählen, die sich selbst niemals als Nazis bezeichnen würden. Das sind Menschen, die vor Kurzem noch CDU gewählt haben oder sogar die Grünen oder SPD.

Die Radikalisierung der sogenannten Mitte ist schon erschreckend.
Vielen Menschen, die die AfD wählen, geht es in Wahrheit nicht um das Flüchtlingsthema geht, sondern darum, ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen.

Dagegen könnte etwas getan werden.
Die politische Klasse hat sich in den letzten Jahren eine gewisse Arroganz angewöhnt. Man wollte regieren, ohne von den Bürgern gestört zu werden. Die Kommunikation war sehr von oben herab. Das wird sich nun hoffentlich bald ändern. Die Leute wählen zunehmend  Politiker, die menschlicher rüberkommen, zum Beispiel Malu Dreyer oder Kretschmann in Baden-Württemberg.

Und dann würde der AfD die Wählerschaft wieder weglaufen.
Das ist gar nicht so unwahrscheinlich. Wenn man jetzt allerdings weitermacht wie bisher, erleben wir vielleicht etwas Ähnliches wie in anderen europäischen Ländern, nämlich dass rechte Parteien immer weiter an Boden gewinnen. So etwas passiert, wenn Probleme über lange Zeit ignoriert werden. Eine Horrorvision.

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