Kapitalismus-Kritik Stress im deutschen System der sozialen Marktwirtschaft

Durch Werksschließungen und den Abbau von Arbeitsplätzen gerät die soziale Marktwirtschaft in Deutschland in Verruf. Zwar stellen US-Investoren dem Standort Deutschland ein gutes Zeugnis aus. Doch das System leidet unter seinen eigenen Versprechungen. Zur Kapitalismuskritik haben die Deutschen jedenfalls wenig Grund – das zeigt ein Blick über die Grenzen.

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Nokia-Werk in Bochum Quelle: dpa

Am Freitag vergangener Woche verbuchte die Linke einen weiteren Propagandaerfolg. Sie hatte im Bundestag eine Aktuelle Stunde beantragt. „Massenentlassungen bei deutschen Dax-Konzernen trotz Gewinnexplosion“ lautete der knallige Titel, mit dem die PDS-Nachfolgepartei einmal mehr Kapital aus Negativmeldungen der Wirtschaft zu schlagen versucht, um so auch die anderen Parteien in Aufruhr zu versetzen.

Managergehälter, Steuerhinterziehung und Werksschließungen – „selten sind die Verrottungs- und Verwahrlosungserscheinungen aus der Wirtschaft so geballt aufgetreten“, sagt der Politikwissenschaftler Claus Offe, ein früherer Schüler des Philosophen Jürgen Habermas. Gleichzeitig wächst die Angst in weiten Teilen der Bevölkerung vor Arbeitsplatz- und Einkommensverlusten – und dies in Zeiten des Aufschwungs, der zwar in den vergangenen zwei Jahren 1,3 Millionen neue sozialversicherte Jobs geschaffen hat, von dem aber viele Arbeitnehmer das Gefühl haben, er komme bei ihnen nicht an.

So gerät das System der sozialen Marktwirtschaft „unter Stress“ (Offe). Und die Politiker in Berlin reagieren entsprechend hektisch. Wirtschaftsbosse stehen unter Generalverdacht, Vorschläge zur Begrenzung von Managergehältern machen die Runde, gegen die Einführung von Mindestlöhnen mag selbst Kanzlerin Angela Merkel keinen Finger mehr rühren, machte sie Ende Februar gegenüber den Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft in München klar. Marktwirtschaftliche Reformen im Sinne der Agenda 2010, etwa eine Senkung der Einkommensteuerlast, geraten durch die Linksverschiebung des politischen Koordinatensystems in weite Ferne.

Stattdessen schlägt die Stunde sozialistischer Systemveränderer, und ihre Rhetorik ist martialisch. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, spricht von einer „Kriegserklärung an die soziale Marktwirtschaft“ und verweist auf den bevorstehenden Stellenabbau bei BMW, Siemens und Nokia. Der bislang als gemäßigt geltende IG-Metall-Chef Berthold Huber sieht die Wirtschaftselite bereits „ihre Verankerung in der Gesellschaft verlieren“.

Die offene Systemkritik ist der vorläufige Höhepunkt einer fast 20-jährigen Entwicklung, beobachtet die Politik- und Gesellschaftswissenschaftlerin Anke Hassel von der Hertie School of Governance in Berlin. Die tief greifende Transformation der sozialen Marktwirtschaft begann mit der deutschen Wiedervereinigung, setzte sich mit der Europäischen Währungsunion fort und wird durch die Globalisierung massiv beschleunigt. Größter Verlierer ist, so Hassel, der männliche Industriearbeiter – also die Kernklientel der Gewerkschaften, die entsprechend heftig gegen den Wandel zu Felde ziehen. Zu den Gewinnern zählen dagegen die Frauen mit einer kräftig gestiegenen Erwerbstätigenquote.

Doch die Gewinner werden weit weniger wahrgenommen als die Verlierer. Selbst der positive gesellschaftliche Effekt einer höheren Frauenerwerbsquote wird per Statistik ins Negative gedreht. Dadurch, dass Frauen häufiger in Teilzeit und überdies in weniger gut dotierten Dienstleistungsbranchen arbeiten, lässt sich, wie in einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), leicht ein Absinken der durchschnittlichen Einkommen ausrechnen und ein Abstieg des Mittelstandes ausrufen. Die Hertie-Wissenschaftlerin Hassel spricht von „einem merkwürdigen Effekt und einer Ironie des gesellschaftlichen Fortschritts“.

Zu den Merkwürdigkeiten zählt auch, dass der Präsident der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, den höchsten Stand der Erwerbstätigkeit mit 40 Millionen Beschäftigten verkündet, diese Meldung aber in der gleichen Woche durch den angekündigten Stellenabbau in einigen wenigen Großunternehmen verdrängt wird. Statt eines Erfolgsbildes zeichnen Politiker und Medien lieber ein Schreckensszenario der Marktwirtschaft.

Die Wirtschaft ist ratlos. „Dieses Bild ist doch völlig verzerrt“, ärgert sich der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann im Interview mit der WirtschaftsWoche. Obwohl die deutsche Wirtschaft in den zwei zurückliegenden Jahren weit über eine Million zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen habe, so Thumann, beteiligten sich Politiker munter am Verbreiten von negativen Vorurteilen über den angeblich herzlosen Neo- oder Turbokapitalismus.

In den Spitzenverbänden der Wirtschaft diskutieren die Funktionäre intensiv über das Bild der Wirtschaft im Speziellen und die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft im Allgemeinen. Beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) graut es Generalsekretär Hanns-Eberhard Schleyer vor der Vorstellung, „dass sich unser Land in eine Klassengesellschaft zurückentwickelt“. Dieter Hundt, Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und erfolgreicher Werkzeugmaschinenbauer im schwäbischen Uhingen, fühlt sich persönlich herausgefordert, das Bild vom rücksichtslosen Unternehmer zurechtzurücken. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) beschloss auf seiner jüngsten Vorstandssitzung, eine „Diskussion über zukünftige Leitbilder des Lebens- und Wirtschaftsstandortes Deutschland“ zu führen.

In der „Käfer-Schänke“ in Münchens Innenstadt berieten die Präsidenten und Hauptgeschäftsführer der vier großen Verbände BDI, BDA, DIHK und ZDH nun in vertraulicher Runde, wie sie gemeinsam wieder mehr Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft herstellen können. Für die Unternehmen geht es um nichts weniger als um die Geschäftsgrundlage, mit der „wir in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gewesen sind“ (Thumann). Nun gehe es darum, die Vorteile der sozialen Marktwirtschaft herauszuarbeiten.

Tatsächlich sprechen viele gute Argumente für die soziale Marktwirtschaft, die sich – gerade auch für ihre Kritiker aus dem linken Lager – als vergleichsweise günstiger Gesellschaftsvertrag erweist.

In puncto Rechtssicherheit, Einkommensverteilung und sozialer Frieden schneidet Deutschland im internationalen Standort- und Systemvergleich überdurchschnittlich gut ab. Dies gilt im Vergleich zu Nachbarländern wie Frankreich und Italien oder auch den USA, ganz zu schweigen von den aufstrebenden Ländern wie China, Indien oder Russland, die manche Kritiker der sozialen Marktwirtschaft wegen ihrer derzeit hohen Wachstumsraten schon als überlegene Wirtschaftsmodelle darstellen. Die hiesigen Reaktionen gegenüber Managergehältern, Steuerhinterziehungen und Massenentlassungen trotz guter Konjunktur fallen womöglich deshalb auch so heftig aus, weil die Fälle an tragenden Pfeilern des deutschen Erfolgsmodells rütteln.

Und wer sich einmal in Industriegebieten in Chongqing, Mumbai oder Nischni Nowgorod umgeschaut hat, schätzt die hohen Umweltschutzstandards in Deutschland. Viele Unternehmen hierzulande profitieren inzwischen von den hohen Umweltauflagen, zu denen sie schon vor 10, 20 Jahren verpflichtet wurden, und beliefern die Welt heute mit energieeffizienter und umweltschonender Technologie.

Quelle: Bundesverband deutscher Marken Quelle: WirtschaftsWoche

Stolz können die Deutschen auf ihre Infrastruktur sein. Und trotz aller Mängel, falscher Leistungsanreize und nicht ausgeschöpfter Effizienzreserven bringt das deutsche Gesundheitswesen zumindest niemanden um. In internationalen Standortvergleichen wie dem Global Competitiveness Report des Weltwirtschaftsforums in Genf jedenfalls belegt Deutschland in diesen Kategorien Spitzenplätze.

Die gleichen Rankings zeigen umgekehrt aber auch, dass diese Leistungen bezahlt werden wollen, und deswegen sind die Steuer- und Abgabenlasten hierzulande besonders hoch. Unternehmen und Besserverdienende werden stärker als anderswo zur Kasse gebeten.

Auch bei den Ausgaben für die soziale Sicherung steht die Bundesrepublik im internationalen Vergleich ganz oben. Fast 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließen ins Sozialsystem, zwei Prozentpunkte mehr als im EU-Durchschnitt.

Trotzdem wächst die Unzufriedenheit in den unteren Einkommensschichten. Und dies sogar aus gutem Grund! Nach einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung über die soziale Lage in der Europäischen Union landet Deutschland im Gesamtranking auf Platz 21 – schlechter schnitten nur Italien, die Slowakei und Griechenland ab. Untersucht wurden Indikatoren wie soziale Sicherung, Arbeitsmarkt- und Bildungschancen, Gleichstellung von Männern und Frauen und die demografische Nachhaltigkeit. Bei fast allen Indikatoren landete Deutschland auf einem der hinteren Ränge. Versagt also die soziale Marktwirtschaft trotz immenser Geldmittel ausgerechnet auf dem Gebiet der Sozialpolitik?

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